Zum Inhalt springen

Erinnerungen (24.08.2012)

September 11, 2012

20 min laufe ich vom Hostel durch den Stadtpark, dann stehe ich am Hösök ter, dem Heldenplatz. Erinnerungen kommen auf. 1985. Mein Bruder und ich in Budapest. Den Platz bestaunend, laufen wir Richard von Weizsäcker in die Arme.  Für meinen Bruder hat das ungefähr die gleiche Bedeutung, als hätte ich Mick Jagger getroffen. Gut, er fällt nicht in Ohnmacht, was mir bei dem Herrn Rolling Stone sicher passiert wäre.

Nach einem Frühstück in einem Straßencafé lauf ich Richtung Donau und Margareteninsel. Es ist unglaublich heiß und ich erhoffe mir auf der Donau etwas Wind.

Erinnerungen. Hier, auf der Insel, schlief damals die herumziehende Jugend des Ostens. Abends fielen sie in die weitläufigen Parkanlagen der Insel ein. Polen, Ostdeutsche, Tschechen, auch Ungarn. Mit Wein, Brot und Schlafsack. Morgens räumte die Polizei die Insel. Manchmal auch nachts. Bei Regen gab es einen Tunnel am Kelleti pu., wo man die Leute von 22:00 Uhr bis 5 oder 6 in der Früh schlafen ließ. Dort verbrachte ich auch ein Mal eine Nacht.

Kerstin erzählt mir am nächsten Tag, dass sie auch mal auf jenem Bahnhof übernachtet habe. Da  war die Margareteninsel nachts schon gesperrt und der Tunnel sei geschlossen gewesen. Dafür sammelte die Polizei alle ein und fuhr sie mit Bussen an den Stadtrand, wo in einer Halle Feldbetten aufgestellt waren. Dort konnten sie in Ruhe schlafen. Am nächsten Morgen 6.00 Uhr hätte man sie alle wieder in Bussen zurück zum Kelleti pu. gefahren.  Irgendwie sympathisch, wie die Ungarn mit ihren armen Brüdern aus dem Osten umgingen und das Problem auf weitgehend friedliche Art lösten. In Polen wurde man einfach alle 30 min wach geprügelt.

Auf der Insel aber schlief ich nie. Ich hatte keinen Bock auf Betrunkene und nächtliche Razzien, legte mich  lieber in den Park unterhalb der Burg.

Trotzdem verbinden mich Erinnerungen mit dieser Insel.

Erinnerungen. Überall, wo ich in Budapest den Fuß hinsetze, Erinnerungen. Es ist, als wäre man nach langer Zeit zurück gekehrt. Nur wohin? Die Stadt ist mir längst nicht so vertraut wie Prag. Also nur eine Rückkehr in die Jugend? In „Sonnenallee“ sagt einer der Protagonisten am Ende des Films sinngemäß, wir waren glücklich. Trotz Diktatur und FDJ. Weil wir jung waren. 

Ich sitze vorm Bad auf der Insel. Vor genau 30 Jahren trafen wir uns hier mit den Freunden, mit denen wir nach Bulgarien getrampt waren, auf der Heimreise. An 2 Tagen zu jeder vollen Stunde zwischen 12 und 22:00 Uhr. Im Bad fanden wir die Freunde. Nur M. fehlte. P. hatte sie verloren, irgendwo in Rumänien. Er hatte ihr Geld, ihren Rucksack. Jede volle Stunde schaute einer von uns raus.

Dann sahen wir sie. Unglücklich hockte sie auf einer der Bänke. Im 6. Monat schwanger, ohne Geld und Rucksack. Dabei ist das eine Grundregel beim Trampen, dass, wenn man sich schon trennt vom Spannemann, jeder sein Gepäck, seine Papiere und natürlich auch das Geld bei sich behält. Aber eigentlich trennt man sich auch nicht. Das hatten wir den beiden extra noch Mal eingeschärft.

J. und G., das dritte Pärchen in unsere Runde, hatte die Nacht davor in den Ruinen der Franziskanerkirche auf der Insel übernachtet. Ungemütlich sei es gewesen. Laut. Viele Betrunkene. Und Diebe. Und dann eine Razzia.

Heute wird wohl, abgesehen von den Obdachlosen, keiner mehr im Freien übernachten. Heute darf jeder soviel Geld tauschen, wie er hat, braucht und will. Und überall in der Stadt gibt es Hostels. Sogar auf der Insel stolpere ich an einem vorbei.

Und dann gehe ich ins ehemalige Casino essen. Soviel Dekadenz muss sein. Entenbrüstchen an getrockneten Pflaumen in Rumsoße. So etwas hätte ich mir vor 30 Jahren nicht leisten können. Da gab es eine Suppenküche in der Nähe der Insel, wo man kostenlos soviel Sprudel trinken konnte, wie man wollte. Trinkwasserbrunnen sind ja über die ganze Stadt verteilt.

Erinnerungen!

Ich laufe runter von der Insel und zum Parlament. Den Fußweg an der Donau meide ich, flüchte stattdessen in den Schatten einer Parallelstraße. Der Wind treibt Staubwolken durch die Häuserschluchten. 2l Wasser habe ich schon getrunken und es ist noch nicht mal Mittag. 43°C zeigt eine Apotheke die Temperatur an.

43°C!!!

War es je so heiß, wenn ich hier war, das letzte Mal vor 18 Jahren?

Da muss mir kein Zahnarzt sagen, dass ich die Sonne meiden soll.

43°C!!!

Das Parlament ist eingerüstet. Prima. Alte Fotos habe ich kaum. Damals habe ich die Farbfilme in Rumänien verknipst. Und die wenigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind verblichen. Überhaupt wurde nicht so viel fotografiert.

Wenn das Parlament nicht tagt, finden Führungen statt. Heute ist keine Sitzung. Auf dem Kossuth-Lajut-Platz zwischen Parlament und Ethnographischen Museum steht eine lange Schlange. Kein Schatten! Ich sehe keine Krankenwagen in der Nähe. Kaum vorstellbar, dass die nicht gebraucht werden.

An der Kettenbrücke, sagt mein Reiseführer, soll ich in die elegante Zinnyi Utca abbiegen. Mir ist sie zu stereotyp. Trotzdem laufe ich tapfer bis zur St. Stephans Basilika, verheddere mich, finde mich in der Vaci Utca wieder und endlich auch die Kettenbrücke.

Der Tunnel auf der anderen, der Budaer Seite, wurde von Adam Clark gebaut, einem Schotten. Doch das lese ich erst später. Früher hatten wir keinen Reiseführer. Margareteninsel, Parlament, Fischerbastei, Donauufer und später der Weg zu den Freunden. Und alles was an Stadt dazwischen und rundherum lag.  Ich habe ganz Budapest gesehen, ohne immer zu wissen, was es ist oder wo ich genau bin. Und die Hotels aus Glas und Beton fand ich damals aufregend und chic. Heute empfinde ich sie als störend. So ändern sich Sichtweisen.

Erinnerungen.

Der Tunnel hat mich fasziniert. Hindurch zu laufen fand ich beängstigend.

Ich steige hinauf zur Fischerbastei, die Burg lasse ich links liegen. Ich will da, wo ich mir früher die Nase platt drückte, einen Kaffee trinken. Doch die vielen Rentner erschrecken mich.

In die Uri Utca aber verirren sich nicht mal Japaner.  Ganz allein habe ich sie für mich, mit ihren Häusern aus dem 15. bis 18. Jahrhundert.

Ins Militärmuseum am Ende der Straße musste ich vor 27 Jahren mit meinem Bruder. Als ich vor den auf Buda gerichteten Kanonen stehe, sehe ich genau das Foto vor mir, dass ich damals von ihm machte. Auch damals war die Uri utca menschenleer.

Erinnerungen.

Ich verlasse die Fischerbastei über das Wiener Tor. Männer fegen den Gehweg. Das scheint hier noch die Aufgabe der Anwohner zu sein.

Mit der Metro fahre ich zurück zum Heldenplatz und laufe zum Hostel. Im Park verfitze ich mich und lande am Verkehrsmuseum. Das kannte ich noch nicht!

Ich falle tot und fußlahm in mein Bett.

Nach 10 min springe ich auf. Statt Diskobeat gibt es heute Hard Rock. Life! Ungarischen Hard Rock! Von meinem Fenster aus kann ich die Bühne sehen. Obwohl ich heute 12 Stunden unterwegs war, bin ich noch nicht erschöpft genug, um das zu überhören. Also raus und essen gehen. Entgegen früheren Jahren wollen die Forint einfach nicht alle werden.

Ich streune durchs Viertel. Ich will da, wo auch die Einheimischen.

Das Essen, so eine Art Geschnetzeltes, ist gruselig. Ich probiere genau sechs Stück Fleisch und spucke alle wieder aus. Kann man nicht essen. Auch nicht mit ohne Zahn raus. Wäre ich nur in die Sushibar gegangen oder dahin, wo drei Musiker die Gäste mit Folklore unterhalten. Die sitzen übrigens genau unter meinem Fenster, aber ich höre sie nur, wenn die Ungarische Ausgabe von Metallica Pause macht.

Doch so laut  sie sind, so pünktlich sind sie. 22.00Uhr ist Schluss. Genau wie bei den Folkloristen unter meinem Fenster.

Hier eine kleine Auswahl von Bildern. Ein größeres Album gibt es später noch.

Zum Groß gucken drauf klicken.

10 Kommentare leave one →
  1. September 11, 2012 1:19 am

    Der Pareidoliebrunnen ist ja goldig. Und der Herr auf Bild 7 scheint ebenfalls sehr unter der Hitze zu leiden. Budapest würd mich auch sehr interessieren, nur 43° muss ich nicht haben.

    Like

    • September 11, 2012 10:48 am

      Ja, ne? Der Herr auf Bild 7 erschien mir wie ein Leidensgenosse. Und Brunnen mit Trinkwasser gibt es zu Hauf in Budapest. Aber dieser einer war der wirklich äh menschlichste

      Like

  2. September 11, 2012 8:37 am

    Toll! Mit deinen Erinnerungen hast du meine losgetreten. Ich war nur einmal in Budapest. Auf einem Kongress 1990. Frau Waas kennt die Stadt noch nicht und ist neugierig drauf. Wenn das keine Gründe sind…

    btw: bitte weiterschreiben 😉

    Like

    • September 11, 2012 10:50 am

      Oh ja. Die Stadt ist eine Reise wert. Mit gutem Schuhwerk und nicht im Sommer. Obwohl… man könnte ja in so einem Sightseeing-Bus. Allerdings bleiben einem da die kleinen Entdeckungen in den Nebenstraßen verborgen

      Like

      • September 11, 2012 10:56 am

        Für den groben Überblick nehmen wir seit einigen Jahren zuerst mal einen dieser Busse. Aber Städte erkundet man am besten per pedes oder Pedal…
        btw: Budapest steht seit heute fest auf dem Programm 😉

        Like

  3. September 11, 2012 10:02 am

    Klasse – Beides, Text und Bilder! 😀
    Ich bin vor vierzig Jahren mal in Budapest gewesen, allerdings nur einen knappen Tag lang. Eltern, Brüderlein und ich haben Urlaub am Balaton gemacht. Nach Budapest würde ich sehr gerne auch mal wieder, wenigstens für ein paar Tage…

    Like

    • September 11, 2012 10:51 am

      Budapest ist eine der wenigen osteuropäischen Städte, die sich kaum verändert hat. Weil die schon immer etwas westlicher waren als die anderen. Und damals wohl auch reicher. Nur viel mehr Leute scheinen mir da zu sein, heutzutage

      Like

  4. September 11, 2012 8:12 pm

    Du schreibst den besten Reisebericht aller Zeiten! Mehr davon und am Ende ein Buch, bitte 🙂

    Like

    • September 12, 2012 7:52 am

      Oh. Naja, an dem ersten Tag hatte ich noch viel Zeit, weil ich allein war. Aber Freitag wirds dann ruhiger 😀

      Like

Trackbacks

  1. Abschied und Wiedersehen « Inch's Blog

Hinterlasse eine Antwort zu Inch Antwort abbrechen