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Bilder eines Tages

Januar 22, 2015

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAuf dem Augustusplatz, da, wo in vier Stunden die besorgten Bürger aus der Mitte den Hetzreden ihrer Führer lauschen werden, sind noch viele junge Menschen damit beschäftigt, Botschaften auf das Pflaster zu kreidemalen. Ein alter Mann steht unter ihnen und schreit sich in Rage und sie an. Sie wüssten nicht, was sie tun. Sie hätten ja keine Ahnung. Die Regierung! 89! Da wären die noch gar nicht hier gewesen (die jungen Leute). Die hätten kein Recht dazu! Ich überlege kurz, hinzugehen, und zu sagen: ICH! Ich war hier! Wo waren Sie? Aber der Mann sieht nicht aus, als wäre er noch in der Lage, klar zu denken und zu argumentieren. Eigentlich sieht er aus, als stirbt er gleich einen Herzinfarkt. Die jungen Leute befürchten das wohl auch, versuchen ihren Standpunkt zu erläutern und gleichzeitig beruhigend zu wirken.

Botschaften an die besorgten Bürger

Ich bin zu Fuß unterwegs.

Ab 14:00 Uhr kein Straßenbahnverkehr mehr in der Innenstadt. Ich aber muss zum Bahnhof das Kind abholen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Stadt gleicht einer Festung. So was habe ich tatsächlich 1989 zum letzten Mal gesehen. Am 9. Oktober.

Schon am Vormittag wurden in meinem Viertel Polizeiwagen postiert. Vereinzelt.

Ab Rathaus stehen sie in Reihe.

Ich bin zu zeitig, der Zugang zum Bahnhof scheint frei, da kann ich schnell noch eine Freundin besuchen, die hier in einem Buchladen arbeitet.

Kaffee trinken, Schwätzchen halten, ein letztes Mal zur Toilette.

Dann das Kind abholen. Haupteingänge geschlossen. Bitte benutzen Sie die Nebeneingänge. Als ich einen erreiche, wird er gerade verschlossen. Bitte benutzen Sie die Haupteingänge. Ja, aber?

Es gibt dann doch noch eine Tür, zwischen Haupt- und Nebeneingang.

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im Bahnhof

Der Bahnhof kommt mir dunkel vor. Viele Läden sind geschlossen. Wo ein Zug eintrifft, ist klar zu erkennen, da steht ein Empfangskomitee der Polizei. Aber wieso gehen die denn jetzt hier weg? Nachricht vom Kind. Technische Störung, 10 min Verspätung. Kommen mit der S-Bahn.

Ich haste dem Sturmtrupp hinterher. Eine halbe Stunde später tauchen sie aus dem Untergrund auf.

Nun sind alle Türen Richtung Osten zu. Ein Wachmann, den ich frage, pöbelt mich an. Der ist wohl sauer, dass er nicht zu seinen Freunden darf?

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Straße frei, Gasse eng

Westseite. Ein Ausgang. Und dann vorn am Bahnhof vorbei. Da ist gesperrt. Ach nein, es gibt einen kleinen Durchschlupf. Da müssen alle durch, die sagen wir mal, von Ost nach West und umgekehrt wollen. Oder vom Osten in die Innenstadt. Oder vom Busbahnhof in ihr Hotel. Oder vom Busbahnhof zur Legida-Demo. Die, die mit dem Zug kommen, dürfen jetzt den einen Haupteingang nutzen und direkt in die Gasse. Polizei passt auf, dass niemand den Durchgang eigenmächtig verbreitert. Um die Absperrung versammeln sich Gegendemonstranten. Das ist kein Spaß, da durch zu laufen. Da darf man sich als Held fühlen. Hinterher. Mitten durch  die gewaltbereiten linksradikalen autonomen Extremisten.

Ja, sehen Sie her. Ich bin ein linksradikaler gewaltbereiter autonomer Extremist, erkläre ich so einem Deppen. Ich weiß natürlich nicht, was wo anders passiert, aber hier haut keiner die zum Augustusplatz wollen. Hier werden sie mit Sprechchören empfangen, man stellt sich ihnen in den Weg, weicht aber zur Seite, wenn sie schieben. Einer schiebt nicht. Einer schubst mich und den neben mir stehenden, der sich auf zwei Krücken stützt.

Junge Menschen versuchen, über die Absperrung zu klettern und ein Sitzblockade zu errichten. Das geht so schnell. 2 sek. Welle vor, Welle zurück und plötzlich sitzen zwei drei Verletzte neben mir. Dabei stehe ich ganz hinten, abseits.

Wir laufen ein bisschen hin und her. Erstens ist es kalt, zweitens soll ich ja spazieren.

Dann spaziert Legida. Heute geht es nicht nur darum, dass Legida läuft. Heute geht es auch darum, dass sie die Geschichte der Montagsdemos besudeln. Obwohl, ich weiß nicht, ein paar waren sicher schon damals dabei. Mindestens ab nach dem 9. Oktober. Vielleicht sind es genau die, die damals nach der D-Mark geschrien haben, die gegen eine Förderation waren, gegen ein Modell im Osten. Einen Gegenentwurf. Eine Basisdemokratie. Die wollten keine Experimente.

Die sind nun vielleicht besonders enttäuscht und sehr besorgt.

Ich kann mich genau an sie erinnern, wie sie in den Kirchen saßen. Nach dem 16.Oktober. Und wissen wollten, was sie tun sollten/könnten. Statt selber nachzudenken, kreativ zu werden. Irgendetwas musste sie doch auf die Straße getrieben haben. In die Kirchen. Es gab eine Zeit, da war es sehr einfach, das Land nach dem eigenen Willen zu formen. Aber die meisten brauchten jemanden, der ihnen sagt, wo es lang geht. Und als die dicke Wurst die D-Mark versprach, waren diese meisten glücklich. Endlich gab es einen Weg. Ein Ziel. Blühende Landschaften. Hätten die mal in Stabi besser aufgepasst. Nicht, dass ich der DDR nachtrauere, Gott behüte. Aber was damals in der Schule Theorie war, kann ich seit Oktober 1990 wunderbar in der Praxis testen. Eigentlich schon seit der D-Mark im Sommer 1990.

Und nun treibt es sie wieder auf die Straße. Wahrscheinlich wurmt sie das, was sie treibt, schon lange. Komisch nur, dass man die kaum auf gewissen Demos, Podiumsdiskussionen usw. trifft. Geschweige denn, dass sie selber aktiv tätig werden. Und wieder rennen sie jemandem hinterher, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Das ist, so scheint mir, doch recht typisch ostdeutsch. (Wobei ich den Wessi gar nicht so richtig beurteilen kann, weil hier leben ja mehr so Ostdeutsche).

Wenn ich dann allerdings am Folgetag die Statements mancher Politiker höre und merkwürdiger Wissenschaftler, die meinen, die „Bewegung“ hätte ihren Zenit überschritten, dann macht mich diese Arroganz einmal mehr wütend. So Herdenvieh provoziert man nicht bzw. deren Leithammel. Oder stellen Sie, liebe Politiker und Wissenschaftler, sich nächsten Montag und Mittwoch in Dresden und Leipzig mit uns diesem Volk entgegen?

Apropos Dresden. Im Zug nach Leipzig saß ja Polizei, sagt das Kind. Im Zug zurück war keiner mehr. Demo vorbei. Dienst beendet. Sollen die doch sehen, wie sie nach Hause kommen.

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10 Kommentare leave one →
  1. Januar 22, 2015 8:18 pm

    Beeindruckend. Vielen Dank für deinen Bericht.

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  2. Januar 22, 2015 8:33 pm

    Ich war unglaublich froh, dass keiner aus meiner Familie in dieser Woche die Bahnhöfe in Dresden und Leipzig benutzen musste.
    Das wiederum macht mich unheimlich traurig.
    Danke für’s berichten.

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  3. Januar 22, 2015 8:36 pm

    Danke für diese Live-Eindrücke. Das fühlt sich gleich hautnaher an , als die Berichte im TV.

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  4. Januar 22, 2015 9:21 pm

    Beklemmend.

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  5. Gudrun permalink
    Januar 22, 2015 11:10 pm

    Inch, wir waren gestern viele. Bei allem bitteren Beigeschmeck: Das ist gut.

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  6. Januar 23, 2015 9:20 am

    Mein Herz weint um meine Heimat. Leipzig so zu sehen, ist erschreckend, macht mich so wütend und fassungslos.
    Danke für deinen Beitrag.

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    • Januar 23, 2015 10:36 am

      Könnte die Furcht vor „Überfremdung“ gerade in den östlichen Ländern Deutschlands daran liegen, weil zur Zeit der DDR kein Raum war die eigenen Vergangenheit zu bearbeiten? Als böse Nazis galten ja nur der Westen, somit war ist ja keine Schuldaufarbeitung erfolgt.. Was meint ihr dazu, die ihr in der DDR lebtet?

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      • Januar 23, 2015 10:44 am

        Nein das glaube ich nicht. In der DDR wurde nicht mehr und nicht weniger Vergangenheitsbewältigung betrieben als in der BRD. Und hier, also in der DDR, wurden Kriegsverbrecher wenigstens verurteilt. Die Lehrer wurden ausgetauscht durch Neulehrer und nein, nicht nur im Westen, die waren Schuld. Das wurde nie gelehrt. Wir wurden ausführlichst über die Greuel, die von Deutscsland ausgingen, informiert, und da war nicht nur von Nazis die Rede, sondern auch von den vielen Mitläufern, Wegguckern usw. Du siehts das heute noch bei Pegida und Legida, wie sie mit der Verwantwortung g egenüber Russland die Leute zu fangen suchen, was übrigens die AfD schon im Wahlkampf tat. Viele Ostdeutsche finden die derzeitige Russlandpolitik nämlich unerträglich gegenüber einem Land, dem „wir“ so viel schreckliches angetan haben. Nee, nee, das mit der unverarbeitenden Vergangenheitsbewältigung ist Quatsch

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      • Eve Strobel permalink
        Januar 26, 2015 12:02 pm

        Liebe Beatrice, ich würde das ganze nicht so kompliziert sehen.
        Ich kenne beide Seiten, in Leipzig aufgewachsen und `88 nach Berlin/West ausgereist. Die Menschen aus den alten Bundesländern sind es seit den 60er Jahren gewohnt mit den Gastarbeitern in unmittelbarer Nachbarschaft zu leben. Die meisten derer, die da blieben, machten sich selbstständig, man lies / lässt sein Auto in „Erkans Werkstatt“ reparieren, kauft/kaufte bei “ Hassan “ Obst und Gemüse, aß / isst bei „Alfredo“ Pizza und Pasta , bei „Georgius“ Suflaki usw.usw. . Multikulti gehört im Westen schon ewig zum Straßenbild. Und ist somit nicht mehr beängstigend.
        Während das hier ganz anders ist, bzw. und den Menschen hier, nur die negativ Schlagzeilen aus bestimmter Presse im Kopf schwirren. Bsp.: Rütlischule Berlin Neukölln, Ehrenmorde, Drogenhandel usw.
        Das ist meine Einschätzung, weshalb hier so viele, “ Otto Normalos “ diesen Rechten hinterher rennen und sich verdummen lassen.
        Vergangenheitsbewältigung gab es in der DDR mehr als genug. Alle achten Klassen besichtigten das KZ Buchenwald bzw. Ravensbrück. Im Geschichtsunterricht war der Nationalismus ein sehr großes Thema. Um so mehr erschreckt es mich, dass diese …gida Bewegungen gerade hier im Osten so viele Anhänger finden. Aber wahrscheinlich überwiegt die Angst vor dem Muselmanen , die Angst , das man vielleicht noch weniger vom Kuchen bekommt, je mehr Flüchtlinge kommen und nicht zu vergessen, einfach NUR DUMMHEIT .

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  7. Januar 23, 2015 2:41 pm

    „Und wieder rennen sie jemandem hinterher, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Das ist, so scheint mir, doch recht typisch ostdeutsch.“

    Nee, das ist typisch deutsch. Es ist halt immer einfacher jemandem hinterher zu rennen, statt seinen eigenen Verstand zu bemühen, ganz besonders wenn der eh unterentwickelt ist. Das blöde Volk findet man im Westen genauso.

    Danke für Deinen Widerstand, gut dass Du es unbeschadet überstanden hast, nach dem was man hört und liest muss das zeitweilig sehr heftig gewesen sein.

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