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Stolper(wander)tag 1 – Altbekannt und überraschend

Oktober 18, 2014

Jetzt komme ich in den Teil des Stadtteils, den man als Leipziger mit dem Namen Gohlis verbindet. Villen, herrschaftlich bürgerliche Häuser, Gründerzeit, das Gohliser Schlösschen, Schiller… nicht die Krochsiedlung oder gar die Georg-Schuhmann-Straße (obwohl letztere natürlich auch durch diesen Teil führt).

Gohlis-Süd mit dem alten Ortskern. 1890 kam die bis dahin selbstständige Gemeinde, die vermutlich als Dorf von sorbischen Siedlern schon im 7. Jahrhundert gegründet wurde, zur Stadt Leipzig. Um die Wohnungsnachfrage der schnell wachsenden Leipziger Bevölkerung zu decken, wurden in den 1920er und 1930er Jahren neue Bebauungsflächen erschlossen. U.a. entstand die schon erwähnte und beschriebene Krochsiedlung.

1992 wurde der riesige Stadtteil in drei Ortsteile aufgegliedert: Nord, Mitte und Süd.

Hier im Süden, wo ich mich jetzt befinde, arbeite Friedrich Schiller am 2. Akt des „Don Carlos“ und an einer ersten Fassung der „Ode an die Freude“. Aber ich werde Ihnen nicht das Schillerhaus zeigen und auch nicht das Gohliser Schlösschen, das finden Sie in jedem Reiseführer über Leipzig.

Ich will Sie ja teilhaben lassen an meiner Entdeckungsreise. Und die birgt einige Überraschungen. Zum Beispiel sind gar nicht alle Häuser saniert. Einige sind sogar in einem mehr als bedauernswerten Zustand. Hoffentlich fangen die nicht irgendwann ausversehen an zu brennen. Vor 8 Jahren passierte das ja schon einmal einigen alten, stark sanierungsbedürftigen, denkmalgeschützten Gebäuden.

Völlig überrumpelt werde ich von der Begegnung mit der Freien Oberschule Gohlis. Die entstand 1997 und mir ist nicht ganz klar, ob sie in Konkurrenz zur Freien Schule Leipzig oder als Alternative zu ihr gegründet wurde. Jedenfalls ging das Große Kind ja im 1. Schuljahr an die Freie Schule, die war da noch in der Südvorstadt. Irgendwo in diesem Blog schrieb ich darüber.

Am Kirchplatz bin ich etwas verwirrt, Michaelis-Friedens-Kirchgemeinde? Ist die Michaeliskirche nicht am Nordplatz? Ich war da eine Zeitlang als junger Mensch. Sollte ich nicht gewusst haben, im Keller welcher Kirche ich mir furchtbar subversiv vorkam? Zu Haus gucke ich bei Tante G. und finde heraus: Friedenskirche, 1871 begann man mit dem Bau im neugotischen Stil für die gerade entstandene eigenständige Kirchgemeinde, die 1999 (da war ich längst nicht mehr jung genug, um in irgendwelchen Kirchenkellern charismatischen Rauschebärten jeden Mist zu glauben) mit der Michaelisgemeinde fusionierte.

Und natürlich, obwohl Sie DIE Kneipe auch in jedem Reiseführer finden werden, erlaube ich mir doch ein Fotöchen hier zu zeigen. Die Gosekneipe „Ohne Bedenken“. Ich persönlich mag Gose ja überhaupt nicht, ein obergäriges Bier, das laut Wiki vor allem in der Gegend Dessau, Leipzig, Halle getrunken wird. Nun ist das alles eine Ecke, trotzdem kenne ich Gose nur hier in der Stadt, allerdings, das gebe ich zu, suche ich auch nicht in den anderen zwei genannten nach der Brühe. Wie ich schon sagte, ich mag es nicht. Aber die Kneipe hat einen hübschen Freisitz, wo man durchaus auch andere Biere trinken kann.

Auf einer Distanz von 700 Metern erinnern Stolpersteine an das Schicksal drei jüdischer Familien.

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In der Menckestraße lebte der Kaufmann Louis Henry Cohn mit seiner Ehefrau Paula und den Söhnen Ernst und Günther. Alle vier waren waschechte Leipziger, alle vier waren in der Stadt geboren. Die Eltern waren nach Gründung der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ dort angestellt. Ein Fluchtversuch im Mai 1940 misslang. Louis Cohn wurde am 11.11.1942 verhaftet und einen Monat später nach Auschwitz deportiert, wo er am 6. Februar 1942 im Alter von 47 Jahren ermordet wurde. Seine Frau musste zunächst Zwangsarbeit in der Roscherstraße 19 verrichten. Am 17.2 1943 wurden sie und ihre Söhne zunächst nach Berlin, dann nach Auschwitz deportiert, wo sich sowohl ihre Spur als auch die ihres älteren Sohnes verliert. Günther Cohn wurde am 24.5.1943 im Alter von 19 Jahren ermordet.

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Nur 400m sind es zum Poetenweg 15, dem letzten Wohnsitz der Familie Philippsohn. Der Kaufmann und Bankangestellte Walter Philippsohn wurde in der Folge der Pogromnacht im Rahmen einer „Sonderaktion“ am 12.11.1938 verhaftet und nach Sachsenhausen deportiert. Offensichtlich kann er wieder frei, denn am 27.2. 1943 wurde die gesamte Familie zunächst nach Dresden-Hellerberg und am 1.3.1943 weiter nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verlor. Walter Philippsohn wurde 46, seine Frau Erna Philippsohn 43 und ihr gemeinsamer Sohn Werner Philippsohn 16 Jahre alt.

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Weitere 300m stehe ich in der Ehrensteinstraße 32 vor den Stolpersteinen, die an die Familie Gattermeyer erinnern. Der Bankdirektor Hermann Gottfried Gattermeyer uns seine jüdisch-stämmige Frau Lilli Meyer wurden 1926 in München getraut. Zwei Jahre später wurde ihre Tochter Gertraud geboren. Seit 1937 lebte die Familie in der Ehrensteinstr.32 in Leipzig. Die Aufforderung, sich in der Sammelstelle zum Transport nach Theresienstadt einzufinden, erhielten alle drei am 12.2.1945(!). Drei Tage später entzog sich die Familie diesem Schicksal durch den Freitod.

 

Bisherige Abschnitte:

Der Norden, ein weißer Fleck     tief im Norden     Stadt Dorf Widerstand

form follows function     Drei Geschichten vom Mut

Das Leid der Mütter     Eu, die Rietzschke     Unerwünschte Nachbarn- Gerstern und heute

7 Kommentare leave one →
  1. Oktober 19, 2014 2:08 pm

    Ich mag es sehr, mit Dir virtuell durch Leipzig zu laufen.
    Gose schmeckt ganz gut, wenn man es wie Radler trinkt, wenn der Sommer heiß und der Durst groß ist.

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  2. Oktober 19, 2014 5:06 pm

    Wie die schönen Fassaden doch täuschen können – nie würde man vermuten, daß hinter ihnen während des NS-Regimes unbeschreibliches Grauen statt gefunden hat…

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  3. Oktober 19, 2014 6:21 pm

    Kann man das Gose ohne Bedenken trinken in der Kneipe *g*? Probieren würde ich es schon gerne, wo ich sowieso gerade Bier teste muss ich direkt mal gucken ob man das hier irgendwo bekommt.
    Was sich hinter den schönen Fassaden abgespielt hat damals mag ich mir lieber nicht vorstellen…

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    • Oktober 19, 2014 7:04 pm

      Ich weiß gar nicht, ob es das in Flaschen gibt. Wenn doch, habe ich den Wink durchaus verstanden 😉

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      • Oktober 20, 2014 4:40 pm

        Ja, Gose gibt es in Flaschen und wird sogar exportiert. Mein Ehegemahl hat im Juni in einer Kneipe in Philadelphia (hier in den USA) mit einem alten Leipziger Kumpel Gose getrunken und zum Beweis die leere Flasche mitgebracht. Kann ein Beweisfoto liefern 🙂

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        • Oktober 20, 2014 6:40 pm

          Dann habe ich keine Ausrede mehr. Danke. Beweisfoto brauche ich nicht. 😉

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