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Für Touristen und die, die es nicht an die Kremlmauer geschafft haben

September 28, 2014

Der letzte Tag, 25. Juli 2014, ein Freitag, in Moskau

Bevor es wieder nach Hause geht, bleibt uns noch ein Tag in Moskau.

Hier verlasse ich mich völlig auf die Cousine. Die hat hier gelebt, die weiß am besten, was man sich ansehen muss. Und seit ein paar Tagen bereitet sie mich schon auf den Ismailowo Kreml vor. Und natürlich müssen wir Konfekt kaufen.

Freundin Nr.1 hat sich Urlaub genommen. Wir haben kurz darüber beraten, den Abend auf ihrer Datscha zu verbringen. Das war ihre Idee, aber irgendwie haben wir das Gefühl, dass es ihr nicht mehr Recht ist, weil ihr Mann erst spät von Arbeit käme und die Banja doch Stunden vor Gebrauch eingeheizt werden müsse. Datcha ohne Banja, das scheint für Gäste unzumutbar zu sein. Aber uns ist es auch Recht, denn zum Kreml müssen wir dringend, wir brauchen noch Geschenke, dann müssten wir zurück nach Butowo, das Gepäck holen, dann mit Metro und Elektritschka, die ab Freitag Mittag ziemlich voll sein dürfte, raus aufs Land, dann morgen dann zurück nach Moskau und zum Flughafen. Ich hätte zwar gern einen Abend auf der Datscha verbracht, aber das ist dann doch etwas zu stressig und offensichtlich macht sich Freundin Nr1 zu viele Gedanken darüber, eine perfekte Gastgeberin zu sein.

Der Ismailowo Kreml befindet sich am Rand des gleichnamigen, größten hauptstädtischen Parks, eines beliebten Ausflugsziels der Moskauer, in dem m an im Winter auch Ski laufen kann.

Der Kreml als Teil des Freizeit- und Kulturgeländes wurde zwischen 1998 und 2007 im Stil der russischen Architektur des 17. Jahrhunderts gebaut. Also sehr viel Holz, sehr viel Schnitzereien und absolutes Rauchverbot. Aber das sehe ich erst, als wir dort sind, denn unser eigentliches Ziel ist der Markt vor den Toren des Kreml. Es ist Freitag und nur vielleicht ein Viertel der Buden besetzt. Trotzdem bin ich überfordert. Ich habe im Leben noch nie so viele Matrjoschkas gesehen. Einfache und sehr kunstvolle. Da bin ich froh, dass es noch andere Dinge gibt. Bilder aus Birkenrinde zum Beispiel, Gebrauchsgüter aus dem selben Material, Gesticktes und Gestricktes, Filzstiefel und Antiquarisches. In den Werkstätten, zwischen denen die Verkaufsstände aufgebaut sind, kann man den Handwerkern zusehen. Einer, der in Holz macht, arbeitet gerade an einem Auftragswerk für französische Kunden. Eine 1m hohe Matrjoschka, bestehend aus 250 Figuren. Oder waren es 150? Egal, der Handwerker fragt uns: Was wollen die mit so viel Teilen? Das hat er auch die Franzosen gefragt, und ob sie Platz hätten für so viele Figuren. Nein, hätten die Kunden geantwortet, aber sie wollten die Puppen ja auch nie einzeln aufstellen. Der Mann grübelt immer noch, wieso sie dann so viele Figuren im Bauch der Mutter bräuchten. Er arbeitet auch mit Birkenrinde, und da sich das Kleine Kind so eine Haarbürste aus Naturholz wünscht, lasse ich mich über die Herstellung aufklären.

Dann laufen wir durch die an Wochentagen leeren Buden zum Kreml. Ich bin hier, zwischen den Verkaufszeilen, erst mal begeistert von der Gestaltung. Plakate aus den 30-50ern. Das ist wie eine Ausstellung. Ich stehe ja auf so was.

Der Kreml, meint die Cousine spöttisch, sei nur für Touristen gebaut. Allerdings sind wir die einzigen. Ansonsten treffen wir auf Hochzeitsgesellschaften. Es gibt hier ein Standesamt, und das scheint sehr angesagt zu sein. Touristen ist das 2001 eröffnete Gelände vielleicht noch zu unbekannt, ich fand es jedenfalls in keinem Reiseführer erwähnt (nur den Park und den Markt). Dabei würde sich hier ein ganzer Tag lohnen, es gibt nämlich jede Menge Museen. Wir waren nur im Wodka-Museum, und auch von den Werkstätten unten am Markt haben wir uns nur zwei wirklich intensiv angesehen. Und natürlich kann man eigentlich mit jedem Verkäufer ins Gespräch kommen. Der Mann, der die Bilder aus Birkenholz herstellt, war zum Beispiel in Torgau stationiert, 1968, und natürlich kennt er Leipzig.

Freundin Nr.1 will nun auf die Datscha fahren, bevor der Wochenendverkehr einsetzt.

Wir fahren wieder ins Stadtzentrum, in die Mjasnitzkaja Uliza, einer der ältesten Straßen Moskaus. Dort befindet sich das Geschäft Tschaj-Kofe, eigentlich ein Tee- und Kaffeegeschäft. Aber! Hier gibt es auch das, was die Russen am liebsten zu Tee und Kaffee essen: Konfekt. Eine riesige Auswahl an Konfekt. Ich kann die süßen Leckereien auch ohne Kaffee oder gar Tee essen und kaufe ein Kilo ein. Die Auswahl fällt schwer, denn ich muss unter Dutzenden Sorten 10 auswählen, von denen ich mir je 100g eintüten lasse. Meistens entscheide ich mich für Produkte der Süßwarenfabrik Rotfront, der ältesten dieser Art in Russland, die 1826 von Sergej Lenow als Manufaktur gegründet wurde. Mir läuft beim Schreiben noch das Wasser im Mund zusammen, denn natürlich ist inzwischen alles aufgegessen, zumal ich mit dem Großen Kind geteilt habe.

Das war ein echt guter Tipp, liebe Cousine!

Wir essen in einem tatarischen Restaurant, stehen noch vor der Ljubjanka und steigen an der Metrostation Lenin wieder in den Untergrund hinab. Das ist sicher die schönste Station der Moskauer Untergrundbahn. Die Cousine erzählt, dass Studenten vor Prüfungen extra hier aussteigen, um zum Beispiel die Schnauze des Hundes des Grenzsoldaten zu streicheln, weil das Glück bringt. Stimmt, an vielen der Figuren sieht man von den Berührungen blank gewetzte Stellen. Und jede Menge Leute, die entweder im Vorbeigehen oder ganz bewusst bestimmte Figuren anfassen.

Wir wollen zum Friedhof des Neujungfrauenklosters. Dem Nowodewitschij Friedhof. Der Cousine ist nichts mehr eingefallen, was man in Moskau gucken könnte, also habe ich das vorgeschlagen. Dort nämlich soll Bulgakow begraben sein. Unter anderem. Dort liegen alle, die es nicht an die Kremlmauer geschafft haben, also auch jede Menge Politiker, Generale und Revoluzzer.

Aber mich interessiert der Autor von „Der Meister und Margarita“.

Wir sind kurz nach 16.00Uhr da, da müssen wir uns sputen, denn ab 17:00 Uhr dürfen nur noch Angehörige rein. Also studieren wir die Tafel, ich lehne das Angebot der Cousine, nach Chrustschows Grab zu suchen ab, wir teilen uns auf und suchen die letzte Ruhestätte des Schriftstellers.

Oh Mann, hier liegen jede Menge Berühmtheiten und ich werde immer wieder abgelenkt. Makarenko, der berühmteste Pädagoge der Sowjetunion, keine Ahnung, wie sein Werk heute beurteilt wird, ich verschlang seine Bücher über die Gorki-Kolonie, einem Heim, in dem er während des Bürgerkriegs verwaiste und verwahrloste kriminelle Kinder und Jugendliche auf den Grundlagen der Theorien von Rousseau und Pestalozzi resozialisierte.

Prokofjew, Gogol, Tschechow. Nur Bulgakow finde ich nicht. Der liegt bestimmt ausgerechnet in der Reihe, wo das junge Mädchen trauert. Da will ich nicht stören.

Oh Gott! Alexej Tolstoj! Mein Lieblingsautor! Eigentlich stolpere ich über sein Grab nur, weil es monumental ist. Und die Figuren. Ich erkenne sofort die Protagonisten aus „Der Leidensweg“ und „Peter der Große“. Das mag jetzt dämlich klingen, aber hier zu stehen, macht mich richtig, naja, das klingt jetzt doof, aber schon ein bisschen froh.

Ordner fangen an, die Besucher auf die Schließung des Friedhofs hinzuweisen. Mensch, wo ist denn nur Bulgakow? Und die Cousine? Da sitzt sie ja. Sie hat das Grab gefunden. Ganz schlicht ist es, es ist das, wo das trauernde Mädchen saß. Jetzt wird mir auch klar, dass es gar nicht immer dasselbe Mädchen war. Der Cousine, die ja schon zugegeben hat, nicht viel zu lesen, erkläre ich erst mal, wer Bulgakow war.

Bevor wir den Friedhof verlassen, schnipsen wir noch mal zu Raissa Gorbatschowa, und jetzt muss ich mal noch gucken, was diese große steingewordene Russlandfahne soll. Also ehrlich mal (siehe Fotos)

Das Kloster schließt natürlich auch 17:00 Uhr, aber der Friedhof war mir eh wichtiger.

So findet der Urlaub einen schönen Abschluss.

Morgen geht es zurück nach Deutschland. Für mich erst mal nach Berlin, wo sich Frau Tonari dankenswerterweise meine armen Seele annimmt und mich für die Nacht zum Sonntag beherbergt. Wir haben einen schönen Abend, ein gemütliches Frühstück und Frau Tonari und ihr Mann sind die Ersten, die sich meine Urlaubsgeschichten anhören müssen.

Ich danke Ihnen allen fürs Lesen. Über die Metro werde ich später noch mal extra bloggen. Für heute gilt, wie immer: aufs Bild klicken= groß gucken

11 Kommentare leave one →
  1. September 28, 2014 3:46 pm

    Was heißt hier „müssen“? Wir wollten, bettelten, waren sooooo neugierig. Und ein bisschen privilegiert, weil wir die ersten waren.
    Und wir haben von den leckeren Rotfront-Pralinen abbekommen und eine Matrjoschka. (Hieß nicht eine DDR-Süßwarenbude Rotstern?)
    Der Friedhof wäre auch mein Ding gewesen. Ich hatte das Erlebnis verzückt in Leningrad, ähm St. Petersburg. Mussorgski, Glinka, Rimski-Korsakow und Tschaikowski… Und Dostojewski.

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    • September 28, 2014 6:56 pm

      Ich habe bei Euch sozusagen geübt. 😀 Rotstern sagt mir nichts. Und stimmt, ich habe ja Konfekt da gelassen. Jetzt weiß ich, warums so schnell alle war 😀

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  2. September 29, 2014 3:11 pm

    Vielen Dank für die spannenden und ausführlichen Berichte! 🙂

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  3. September 30, 2014 5:45 pm

    Liebe Inch – – ich fürchte, die grosse Reise ist hiermit zu Ende in den Berichten und den grossartigen Fotos.
    Ich danke dir sehr, dass ich dich dabei begleiten durfte.
    (Ich wünsche dir natürlich baldigst die nächste Reise 😉 )

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    • September 30, 2014 6:07 pm

      Ja, nun ist es wirklich vorbei. Jetzt bleibt mir nur noch, Buusy zu kochen und Piroschki 😉
      Und wohin eine der nächsten Reisen geht, weißt Du ja schon. Ich bin gespannt, wie sehr sich die Stadt mit meinen Augen gesehen von der Stadt mit Deinen Augen gesehen unterscheidet. Schuld, dass ich dahin fahre, bist ja Du. Also wird auch spannend sein, wie sich meine Betrachtungen von Deinen beeinflusst wiederspiegel.

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      • September 30, 2014 7:42 pm

        Was heisst hier Schuld – du hast dir den Vertrauenskredit ja einfach genommen 🙂
        Ich bin trotz der winterlichen Reise mal sehr gespannt… (ich mache normalerweise im Winter ja keine Städtreisen. Aber in jener Stadt kannst du ja Wintersport machen falls alle Stricke reissen)

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  4. September 30, 2014 11:09 pm

    Von einem zweiten Kreml in Moskau hab ich noch nie gehört, dann muss man ja für Holzhäuser und Schnitzereien gar nicht bis ganz nach Sibirien fahren *g*
    Was isst man in einem tatarischen Restaurant? Tatar? Und eine Statue von Jelzin hätte auch gut ins Wodkamuseum gepasst, aber so viel Selbstironie geht bei Politikern natürlich zu weit *fg*

    Danke für die Reise (bin gespannt auf die Metro, die in Paris fand ich enttäuschend), wenn mich das nächste mal jemand nach Sibirien schicken will nehme ich das Angebot an.

    Was kommt als nächstes? Alaska bis Feuerland per Anhalter? 😀

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  5. Oktober 11, 2014 11:11 pm

    Ich danke dir sehr, daß wir lesenderweise an deiner unglaublichen, schönen, spannenden, außerordentlichen Reise teilhaben durften. 🙂

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