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Das Ende der Welt

September 18, 2014

Montag, 21. Juli 2014, Fernost, Russland

Früher, wenn ich den Schulatlas aufschlug, und mit meinem Finger Reisen unternahm, war Wladiwostok für mich das Ende der Welt. Gleich danach fing Japan an. Das gehört schon nicht mehr zur Welt. Auf der Karte rechts unten, da endete sie. Rechts oben geht es zwar noch etwas weiter in den Osten hinaus, aber das war so diffus, ein Land, meistens kalt, nur von Rentieren und den Hirten bewohnt, die Städte vollkommen unbekannt. Keine Ahnung, warum und wie sich manche Orte in unsere kindlichen Gehirne schleichen, dort festsetzen und als Traum weiterleben. Einer meiner Freunde fuhr vor ein paar Jahren mit dem Motorrad nach Kamtschatka, von Leipzig aus, aus dem gleichen Grund, weswegen für mich als Transsibstrecke nur die nach Wladiwostok in Frage kam. Der Freund ist wohl auch abenteuerlustiger als ich.

Und nun also fährt der Zug, der gar nicht die Transsib ist, sondern zur BAM gehört in den Bahnhof ein. Verbotene Stadt. Pazifikflotte. Aufgeregt drücken wir die Nasen an die Fenster und versuchen, den Nebel zu durchdringen.

Unsere Abteilnachbarn sind in Ussurijsk ausgestiegen. Die Nacht war ganz schrecklich. Zwei der jungen Frauen zogen, nachdem wir um Platz zum Abendessen gebeten hatten, los. Die Dritte hoffte wohl, ihnen zu folgen, wenn das Kind schliefe.

Es schlief nicht, schrie die halbe Nacht. Ich lag wach in meinem Bett und dachte, wann nimmt sie es mal in den Arm, warum tut sie es nicht? Stattdessen wurde es von seiner völlig überforderten Mutter angeschrien, ausgeschimpft und gehauen.

Was für ein unwürdiger Abschluss dieser unserer schönen Reise.

Doch seit sie ausgestiegen sind, konzentrieren wir uns nun voller Vorfreude auf unser Ziel. Und dann, als wir aussteigen, es gibt ein Foto von mir, sehe ich etwas verloren aus, so als sei ich überrascht vom Ende und wüsste nicht genau, wie es weitergehen soll und wohin. Es ist neblig, es ist warm, es ist bewölkt. Doch der Bahnhof ist sich seiner Rolle bewusst, es gibt eine Menge Schilder und Zeugs zu bestaunen und zu fotografieren. Natürlich steht hier auch eine Lok, die schenkten die Amis den Russen im 2. Weltkrieg. Erinnern Sie sich? Die waren damals Alliierte. Und natürlich, schließlich sind wir am Ende der Strecke angelangt, ist auch das Bahnhofsgebäude selbst besonders schön. Glänzt mit Gold und Glitzer, mit Marmor und Fliesen. Und wie es sich gehört, begrüßt Lenin den Reisenden, wenn er aus dem Jugendstilgebäude tritt. Ich würde sagen, er zeigt nach Osten, also so ein bisschen in die Richtung, in die die Fähren fahren. Japan und so. China natürlich. Und Korea ist auch nicht soweit weg. Wir sind ein ganzes Stück an ordentlich befestigter Grenze entlang gefahren, da war uns ganz und gar mulmig zumute.

Und natürlich, wie es sich gehört, liegen Kriegsschiffe im Hafen. Aber Hallo! Und es gibt jede Menge revolutionärer Denkmale. So Budjonnyreiter, proletarische Fäuste, Sowjetmacht.

Wir aber erfreuen uns erst mal am Bahnhof, lesen jedes Schild gründlich, fotografieren und laufen durch den Nebel zu unserem Hotel. Perle heißt das, also, auf Deutsch. Und das ist dann nun mal eine positive Überraschung, große Zimmer, sauber, sehr schön. Da man erst 14:00 Uhr einchecken kann, geben wir die Rucksäcke ab und laufen los. Ich brauche dringend Kaffee. Mein Bauch sagt ja, rechts rum, aber die Cousine fragt den Türbewacher und der sagt, links. Dort, an der Uferpromenade, soll es sehr viele Cafés geben. Gibt es natürlich nicht. Stattdessen Kriegsschiffe und U-Boot, das Denkmal für die Kämpfer für die Sowjetmacht im Fernen Osten, das eigentlich ein ganzer Denkmalskomplex ist, noch ein revolutionäres Denkmal vor einer riesigen, im Nebel verschwindenden Brücke, das Denkmal für die Gefallenen des 2. Weltkrieges, daneben ein Triumphbogen. Ich kann mich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr so richtig konzentrieren. Ich brauche jetzt nicht nur Kaffee, ich habe auch Hunger. Und weder Café noch Restaurant in Sicht. Nicht mal ein kleiner Produkti. Auch in der parallel zum Ufer verlaufenden größeren Straße sieht es schlecht aus.

Wir müssen tatsächlich warten, bis Punkt 12:00 Uhr ein Restaurant am Hafen öffnet. Business Lunch. Wir sind die ersten Gäste.

Danach schauen wir uns so ein U-Boot von innen an. Ich war ja noch nie in so was. Aber wenn es hier nun mal rumsteht, kann man auch rein. Wir schauen uns dann auch alles genau an, auch den Stalin, der da noch an der Wand hängt, ich erschrecke mich vor einer Puppe, die den Funker darstellt und wir versuchen gemeinschaftlich herauszufinden, wie die die Raketen hinter den Kojen vorgekriegt haben. Oder hätten. Im Ernstfall. Vier lagen ja immer schussbereit schon da in diesen Rohren.

Dann sehen wir uns das Kaufhaus in der ehemaligen Unternehmenszentrale von Kunst& Albers an, das gut restauriert ist, die hölzernen Wohnhäuser dagegen, die die Hamburger Kaufleute bauen ließen, sind in dem üblichen desolatem Zustand. Spuren des 1860 zunächst von Gustav Albers gegründeten und ein Jahr später erweiterte Handelsunternehmens findet man noch in vielen Städten im Nahen Osten, zum Beispiel fanden wir die auch in Chabarowsk. 1913 hatte es das Unternehmen auf fast 40 Standorte gebracht, nicht zu vergessen die Überseevertretungen in Hamburg, Moskau, Odessa, Warschau und Nagasaki.

Die Holzhäuser jedenfalls wurden ursprünglich als Wohnhäuser für die Mitarbeiter des Unternehmens gebaut, sie hießen Sibir, Fernsicht und Karlsruhe. In meinem kleinen Handbuch steht, dass das Interesse an der Geschichte des Deutschen Handelshauses, dessen Erfolgsgeschichte mit dem Bürgerkrieg sein Ende nahm, inzwischen wieder gewachsen ist. Da kann man nur hoffen, dass dieses Interesse über die Geschichte und Kaufhaus hinaus auch die alten Wohnhäuser übergreifen wird.

Inzwischen fängt es auch noch an zu regnen, aber bevor wir ins Hotel flüchten, wollen wir am Morskoj Woksal noch herausfinden, wann hier die Schiffe gehen. Ich hatte da zu Hause ein bisschen recherchiert.

Ziemlich schnell finden wir heraus, dass alle Schiffe zu allen Inseln ungünstig fahren und überhaupt keine Rücksicht auf durchgeknallte Touristen nehmen. Die fahren nämlich nicht früh zur Insel und abends zurück, sondern umgedreht. So dass die jeweilige Inselbevölkerung den Tag in der großen Stadt verbringen kann.

Schnief.

Trotzdem rennt die Cousine noch jemanden fragen und verschwindet in einem Zimmer. Als ich denke, die ist aber lange weg, schaue ich auf die Uhr. Von da an warte ich noch geschlagene 25 min. Ich bin ziemlich angefressen. Zwar weiß sie danach, mit welchem Bus wir wohin fahren können und das ist gut, aber so lange für diese Information? Und wieso ist sie nicht mal rausgekommen, als sie gemerkt hat, dass es länger dauert, hat mir Bescheid gesagt bzw. mich geholt? Ich finde das doch etwas rücksichtslos, fühle mich wie einen Deppen behandelt und bin sauer.

Das wird eigentlich auch nicht am Abend besser, als wir nach dem Einchecken, Sachen abwerfen und Duschen noch mal ins Chinesische Viertel tappen, dass es eigentlich gar nicht mehr gibt, weil es schon zu Stalins Zeiten abgerissen wurde. Dazu kommt noch der Regen. Wenigstens finden wir ein nettes, alternatives Restaurant. Aber ehrlich, wenn das Wetter morgen nicht besser wird….

Für die Nebelbilder wieder drauf klicken, dann wird der Nebel sichtbarer

11 Kommentare leave one →
  1. September 18, 2014 9:51 pm

    Bei dem Foto mit dem Denkmal und den im Nebel verschwindenden Pfeilern habe ich wirklich den Eindruck, du hättest es am Ende der Welt gemacht. 😉

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  2. September 19, 2014 7:27 am

    Schönen Dank für den abermals eindrücklichen Bericht und die stimmungsvollen Fotos.
    (Jetzt kommen dann wohl die Bildberichte der Rückreise?) 🙂

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  3. September 19, 2014 8:47 am

    Ich freue mich auf weitere Berichte.

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  4. September 19, 2014 1:26 pm

    Super, diese Smartphonemuttis. Kennen genau zwei Möglichkeiten der Kinderberuhigung, Filme gucken oder prügeln. In Deutschland hätt ich der ein paar Takte erzählt, aber so am Ende der Welt nimmt man dann doch besser Abstand davon.

    Überraschend finde ich, dass man da im Hafen Kriegsschiffe fotografieren darf, ich hätte da militärisches Sperrgebiet vermutet (oder waren die wie das U-Boot alles Museumsstücke?). Kunst & Albers sagte mir auch überhaupt nichts, da musste ich erst einmal bei Wikipedia nachschlagen. Interessante Geschichte, in einem Kaff mit 44 Holzhäusern am Ende der Welt ein Kaufhaus zu errichten ist wahrer Pioniergeist, ich bin mal gespannt auf die Fotos. Und gut, dass die Reise noch nicht ganz zu Ende ist.

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