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Partisanen vom Amur

September 6, 2014

Wer in der DDR zur Schule ging, lernte das Lied in derselben. Mindestens auf Deutsch. Manche auch auf Russisch. Wir singen es heute noch am Lagerfeuer, mindestens auf Deutsch, so wie das Heidenröslein oder Blowin in the wind. Gehört zu unserem Liedschatz.

Als die Cousine das Lied anstimmen will, halte ich sie erst einmal davon ab. So fromm wie die Russen heutzutage sind, kommt das Lied vielleicht nicht so gut. Aber auch in Russland ist das Lied noch sehr populär. Klar, ich vergaß für einen kurzen Moment den Umgang der Russen mit ihrer Geschichte.

Wir stehen am Amur.

Wladiwostok mag das Ende der Welt sein, aber der Amur, der Amur ist der Herr der Flüsse. Jedenfalls in meinem kleinen Universum. In dem der Cousine auch. Wir standen am Irtysch, am Ob und an der Angara. Alles gewaltige Ströme. Aber der Amur. Der Amur.

Wir sind in Chabarowsk. Pjotr, der bis zum nächsten Morgen auf seinen Anschlusszug warten muss, hat uns gefragt, ob wir uns abends treffen und was trinken gehen wollen. Aber wir haben beide keine Lust auf einen Abend, dessen Ausgang so ungewiss ist und in einem Desaster enden könnte.

Der Zug, der zwischenzeitlich 3 Stunden dem Fahrplan hinterher hinkte, hatte in der Nacht wieder etwas aufgeholt. Trotzdem bleiben in Chabarowsk 2 Stunden Verspätung übrig. Da der Abend gestern etwas länger dauerte, bin ich spät aufgewacht, so Viertelelf. Draußen regnet es, kein schöner Start in den Tag. Walja und Wladimir nötigen uns wieder, zu essen. Es gibt frischen Salat. Ehrlich. Frisch. Russische Passagiere sind unglaublich.

Der letzte große Halt vor Chabarowsk ist in Oblutche, einer Kleinstadt im Jüdischen Autonomen Gebiet. Und dort stellt sich mein Smartphone, das die ganze Zeit stur Moskauer Zeit angezeigt hat, plötzlich um. Prima, jetzt beginnt die Rechnerei, denn das Handy der Cousine stellt sich willkürlich um und was meins an der nächsten Zeitzone macht, ist fraglich. Kurz hinter Oblutche fahren wir durch den ersten Eisenbahntunnel der Welt, der unter den Bedingungen des Permafrostbodens gebaut wurde. Wladimir kennt die Strecke wie seinen Hinterhof und kann uns den Namen jeden Flusses, den wir überqueren, nennen und Wissenswertes zu jeder Stadt, zu jeder Brücke erzählen.

Er und Walja müssen in Chabarowsk 9 Stunden auf ihren Anschluss nach Komsomolsk na Amure warten. Sie werden die Zeit mit einer Bekannten verbringen, die extra von etwas außerhalb der Stadt herkommt.

Wir aber machen uns auf den Weg zu unserem Hotel. Das entpuppt sich als Hostel. Das Zimmer ist eng, ein Bettlaken als Decke für zwei, die Cousine marschiert sofort los, ein zweites zu besorgen. Das Frühstück besteht aus Toast, Marmelade, Butter und Tee. Kaffee soll ich mir an der Rezeption kaufen. Geschirr und Besteck gibt es auch keins. Als wir welches verlangen, wird uns grummelnd und schimpfend welches gebracht. Wir lassen es in der Küche stehen. Ein Fehler, denn am Abend, als wir zurück kommen, haben sich dankbare Finder gefunden.

Wir duschen, überschwemmen dabei den Flur, was aber normal scheint, und machen uns auf in die Stadt.

Chabarowsk verdankt seinen Namen dem Eroberer Jerofej Pawlowitsch Chabarow. (Durch Jerofej Pawlowitsch sind wir ja schon gefahren). Der Ort wurde 1858 als, wie sollte es anders sein, Festung gegründet in einem Gebiet, dass durch den russisch –chinesischen Friedensschluss von Aigun von der Mandschurei an Russland übergegangen war, und sollte die Region am Amur sichern.

Heute zieht sich die Stadt auf 40 km am Amur entlang, das Zentrum aber bzw. der historische Kern der Stadt wurde auf drei Hügeln und zwei Tälern gebaut. Durch dies Täler führen der Amurskij Boulevard und parallel dazu der Ussuriskij Boulevard. Auf dem dazwischen liegenden Hügel liegt das Zentrum der Stadt.

Wir aber laufen erst einmal den Amurskij Boulevard hinunter zum Amur. Ich muss hier mal die Dimensionen eines Boulevards in Sibirien erläutern. Das Teil ist so breit, dass man, wüsste man nicht, dass alles zusammen gehört, glauben würde, man liefe durch einen Park, links eine Einbahnstraße, rechts eine Einbahnstraße. Sind aber keine Einbahnstraßen, ist ein Boulevard und der Park sozusagen der Mittelstreifen. Ein Mittelstreifen mit Spielplätzen und Kunst und Denkmalen. Sie denken gerade an die Rambla in Barcelona? An Boulevards in Paris? Vergessen Sie die schnell wieder. Alles, woran Sie gerade denken, sind enge Gässchen im Vergleich.

Der Amurskij ist 3 km lang und führt direkt vom Bahnhof zum Amur, und da unsere Hotel, das sich als Hostel entpuppt hat, nur 500m vom Bahnhof entfernt auf eben diesem Boulevard liegt, bietet sich der Gang zum Fluss geradezu an.

Wahrscheinlich hat Chabarowsk die schönste Uferpromenade, die wir bis jetzt in Russland gesehen haben. Leider ist sie teilweise gesperrt, da ein Hochwasser ein paar Schäden angerichtet hat. An einem Musikpavillon scheint es jeden Tag Konzerte zu geben, kostenlos natürlich. Heute ist nun dummerweise Blasmusik dran. Und das Wetter macht auch nicht den besten Eindruck. Prompt erwischt uns am Hafen ein Unwetter, dass wir aber im Foyer eines Luxushotels überleben dürfen.

Über die Hauptstraße laufen wir zurück und trotz des üblen Wetters wird klar, das ist eine überraschend schöne, eine gepflegte Stadt. Dabei hatte ich sie extra ausgewählt, weil wir uns auch mal sowjetische Tristes ansehen wollten und sicher waren, sie hier zu finden. Wer kennt schon Chabarowsk? Industriestadt? Hier muss es ja trist zugehen. Nur das Wetter, das Wetter spielt momentan überhaupt nicht mit.

10 Kommentare leave one →
  1. September 6, 2014 5:19 pm

    Ich dachte übrigens beim Boulevard an unsere Stalin-, ähm Karl-Marx-Allee.

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    • September 6, 2014 5:28 pm

      :D. Du denkst schon mal in den politisch richtigen Bahnen. Aber auch die, egal wie sie hieß, heißt oder heißen wird, ist etwas klein geraten.
      Die gesamte Deckelsammlung gibt es übrigens per Mail wenn alle Bilder gesichtet und sortiert sind. Dein Postfach ist doch hoffentlich groß genug?

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      • September 6, 2014 5:46 pm

        Nee, ich ahne, die Kanaldeckelflut wird es überfordern.
        Lass sie doch auf Deinem Rechner. Dann habe ich einen handfesten Grund mal mit ´nem Stick vorbei zu kommen.
        Was ist übrigens aus Deiner Kochaktion geworden?

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        • September 7, 2014 8:07 am

          Sie sammeln Fotografien von Kanaldeckeln, Frau Tonari?
          Ähm, guten Morgen vorweg natürlich (Pardöngsche)

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          • September 7, 2014 10:06 am

            Hallo Herr Ärmel,
            ich knipse Kanaldeckel seit sie das TGL-Einheitsdesign verlassen haben.
            Es gibt schon eine recht stattliche Sammlung von Bildern, die teils analog, teils digital hier lagert.
            Und seit ich blogge und mich „geoutet“ habe, kommen immer wieder welche hinzu. Reisende Blogger sind zu meinem Glück schnell mit dem Virus zu infizieren. Fragen Sie Inch 😉

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            • September 7, 2014 10:36 am

              Vielen Dank für Ihre schnelle Auskunft.
              Ich habe ja so ein merkwürdiges Faible für abseitige Sammelleidenschaften.
              (Notiz an mich: vielleicht sollte ich mal die Archive durchwühlen nach Kanaldeckeln für die Frau Tonari) 😉

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  2. September 6, 2014 9:52 pm

    Ich nehme an, der Boulevard ist so ähnlich wie Unter den Linden, aber natürlich viel, viel, viel breiter. 😉

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    • September 6, 2014 10:32 pm

      Ich habe grad geschaut. Am nächsten Tag habe ich Fotos gemacht, ein schlechtes sogar vom Amurskij Richtung Bahnhof. Wenn ich dran denke, lade ich es hoch und dann schaut selber 😀

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  3. September 7, 2014 8:09 am

    Beeindruckend schon die Grösse bzw. Breite der Flüsse…
    Da kann ich mir gut vorstellen, dass die Menschen auch ihre Wege breit gebaut haben in diesen endlos weiten Landschaften. Sonst wären sie sich wahrscheinlich ganz verloren vorgekommen.

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