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Der zweite Blick

August 27, 2014

13. Juli 2014

Das Frühstück kommt nicht pünktlich. Das Gepäck haben wir nach einigem Hin und Her doch auf dem Zimmer gelassen, statt es gleich mit zu nehmen. Die Speisen nimmt man etwas außerhalb des Hotels ein, in einem kleinen Restaurant mit Terrasse und Blick.

Als wir zurück zum Hotel kommen, drängt uns Irina zur Eile. Die Marschrutka, die uns 9:30 Uhr abholen soll, steht schon da. Hastige Verabschiedung, ein brummiger Fahrer, der das Geld sofort will (normalerweise zahlt man erst beim Aussteigen), wir schmeißen uns satt gefressen und ein bisschen gestresst in die Sitze. Die zwei Jungs, die hier schon sitzen, sind Deutsche. Aus Bonn und Essen. Sie fahren die Transsib andersherum. Sind von Moskau nach Ulan Ude geflogen, dann nach Irkutsk und hierher gefahren und werden nun über Krasnojarsk, Nowosibirsk und Tomsk bis Omsk fahren.

Ah Omsk, da waren wir, da müsst Ihr das und das gucken! Und Ulan Ude? Wie kommt man denn zum Buddhistischen Kloster?

Während die Marschrutka an diversen Hotels Fahrgäste einsammelt, tauschen wir fröhlich schnatternd Erfahrungen und Tipps aus. Ach Ihr habt auch bei Nikita gewohnt? Wie ist es denn da? Unorganisiert? Tatsächlich?

Da halten wir an besagter Unterkunft. Die Jungs staunen. Mussten sie doch zu irgendeiner Haltestelle laufen, weil eine Abholung nicht möglich sei. Jetzt steigen die zwei Französinnen aus Galinas Hostel zu. Die zwei Deutschen sind etwas sauer, die Hinfahrt sei auch schon etwas chaotisch gewesen.

Ein paar Russen sitzen übrigens auch im Bus. Und der Fahrer ist gar nicht so brummelig, wie er sich am Anfang gegeben hat.

Allerdings wählt er auf dem Festland einen merkwürdigen Ort für die Pause aus. Für ein Restaurant reicht die Zeit nicht, die Toilette ist ein ganzes Stück entfernt und am Ende bin ich froh, in einem Produkti noch schnell ein paar Waffeln erstanden zu haben. Doch die Eile rächt sich, keine 5km weiter fahren wir an den Straßenrand. Und nun zeigt sich, was ein echter russischer Chauffeur ist. Der repariert etwas, das Bremsflüssigkeit verliert. Ich will gar nicht wissen, was es ist, aber da auch die Jungs ihm vertrauen, tue ich das mal auch. Dafür sind die Cousine und ich tapferer bei den Walderdbeeren, die zwei Mädchen hier verkaufen. Der eine der beiden Jungs hat nämlich Angst vorm Fuchsbandwurm.

Am Stadtrand von Irkutsk dann erwartet uns ein Ersatzbüsslein. Wir steigen um, staunen über unsere zwei Landsleute, die am Bahnhof die Einladung zweier junger russischer Backpackerinnen, die wir irgendwo in einem Camp auf dem Festland eingeladen haben, zum Kaffee ausschlagen und lassen uns zum Hotel bringen.

Ich will dringend ins 130. Quartal , oder so. Als wir vor ein paar Tagen hier waren, haben wir überall die Hinweisschilder gesehen.

Als wir uns auf den Weg machen, treffen wir ein russisches Ehepaar, dass auf Olchon immer dieselben Bootstouren wie wir gebucht hatte. In Irkutsk scheint man wirklich alle, die am See Urlaub machen, zu treffen.

Der 130. Distrikt, auch historisches Viertel genannt, besteht im Grunde aus zwei Straßen, an und zwischen denen eine Menge Holzhäuser stehen. Das sind einerseits restaurierte, andererseits anhand von Originalunterlagen neu gebaute Gebäude. Es gibt eine Menge Treppen zwischen den sich an einen Hügel schmiegenden Häusern und es ist ganz offensichtlich das In-Viertel der Stadt. Hier treffen sich Touristen mit der Jugend der Stadt, noble Restaurants mit Pubs, Straßenmusik mit Boutiquen, Lounges mit Freisitzen. Klein, fein, quirlig, wieso waren wir denn nicht gleich hier?

Und wenn wir schon mal hier sind, Cousine, lass uns doch zur Angara laufen, dieses Zarendenkmal ist gar nicht soweit weg.

Und plötzlich ist es da, das Paris Sibiriens. Am Ufer stehen Angler im Wasser, gut, das ist sehr russisch, doch dann beginnt eine Uferpromenade, die uns die Sprache verschlägt. Wir bestaunen grüne Elefanten und Lippen aus Holz, Palmen aus Birkenreisig, Riesenkürbisse aus Ästen, gestrickte Vogelhäuschen und dann, dann steht da auch noch ein Gagarin-Denkmal. Klar wir sind ja in der Gagarinstraße. Oder war es ein Boulevard? Egal, Cousine, mach mal ein Foto.

Und da ist das Denkmal Alexander III. Familien schlendern die Promenade entlang und was sind denn das für Lautsprecher in den Bäumen? Da kommen ein paar „Alte“, stöpseln den CD-Player an und beginnen zu tanzen. Ein Polizist fordert ein paar junge Männer auf, ihre Bierflaschen samt Papiertüte im Müll zu entsorgen, denn anders als in den USA heißt hier Alkoholverbot in der Öffentlichkeit Alkoholverbot in der Öffentlichkeit. Nix mit aus der Papiertüte und so und das Verbot heucheln.

Über der Angara geht die Sonne unter, junge Pärchen sitzen an den Stufen am Ufer, Fahrradfahrer halten an und bestaunen das Farbenspiel der Sonne im Wasser, an kleinen Ständen gibt es Zuckerwatte und Eis und Waffeln. Die Autos, in denen Kleinkinder um das Zarendenkmal flitzen, sind ferngesteuert. Irgendwo steht immer ein Vater oder eine Mutter mit dem verräterischen Kasten in der Hand.

Wir können uns kaum trennen vom Abendrot und der heiteren Gelassenheit.

Und ehrlich, wenn ich mir heute das Bild ansehe mit den jungen Menschen auf den Stufen, dann frage ich mich: Ist DAS DER Russe, vor dem die Medien uns gerade wieder Bange machen wollen? Sieht er so aus?

Wenn Sie ihm ins sonnenbebrillte Gesicht gucken wollen: Drauf klicken aufs Foto

10 Kommentare leave one →
  1. August 27, 2014 6:45 am

    „… noble Restaurants mit Pubs, Straßenmusik mit Boutiquen, Lounges mit Freisitzen. Klein, fein, quirlig…“ Das soll Sibirien sein? Ich fasse es nicht. Vielen Dank für die Horizonterweiterung.
    Und was das Russenbild betrifft, das kann ich nachvollziehen. Das funktioniert hier auf „dem Balkan“ genauso…
    Toller Bericht und schöne Fotos wie gehabt – schönen Dank dafür.

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  2. August 27, 2014 9:02 am

    fein erzählt und gebildert – als wäre ich mir dabei … 🙂

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  3. August 27, 2014 9:32 am

    Das sieht alles sehr entspannt aus 🙂

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  4. August 27, 2014 10:43 am

    Das sieht alles so friedlich aus, so voller Lebensfreude auch, sympathisch, anheimelnd – nein, ich bin mir mehr denn je sicher, daß es den „bösen Russen“, der uns von vielen Medien seit langem schon suggeriert wird, überhaupt nicht gibt… Es wird bestimmt so sein wie bei uns, ein Großteil der Menschen möchte nichts anderes als in Frieden und einem gewissen Maß an Freiheit leben, doch den „Eisenfressern“ in den jeweiligen Regierungen steht nach anderem der Sinn…

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  5. August 28, 2014 8:34 am

    @all Danke für Euer Fiedbäck. Ich war gestern doch noch eine Weile unterwegs und wollte, als ich nach Hause kam, nur 5 Minuten die Augen zumachen… Dabei habe ich den nächsten Bericht schon angefangen, abzutippen. Aber der ist wieder sooo lang. Also, es freut mich, wenn Euch meine Bilder und schreibkrams gefallen und dass Ihr geduldig bei der Stange bleibt. 😀 Ehrlich. Das sage ich jetzt nicht, um noch mehr Lob einzuheimsen, das meine ich ehrlich.

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    • August 28, 2014 12:23 pm

      Das ist doch Vergnügen und nicht Aufwand 🙂 Ich danke fürs Schreiben und Bilder zeigen. 🙂

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  6. September 10, 2014 4:30 pm

    Lautsprecher in den Bäumen wären hier wohl innerhalb von 24 Stunden abgebaut, „der Russe“ macht so etwas scheinbar nicht *g*
    Das 130. Quartal ist schick, nur der Name verwirrt etwas, aber da Du die Expertin bist wird das wohl stimmen (Quartier wäre irgendwie sinnvoller).

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    • September 11, 2014 8:17 am

      Nee. Kwartal ist tatsächlich Quartal. Wobei ich FA beim Schreiben gar nicht drüber nachgedacht habe, weil ich das gar nicht übersetzen, sondern nur in lateinischen Lettern schreiben wollte. Ich bin übrigens grad unterwegs, im Moment auch ohne W-Lan, deshalb werde ich alle Deine weiteren Fragen später beantworten. 😀 Du bist ja, scheints der Hitze wieder entkommen

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