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Koltschak und die Revolutionäre

August 3, 2014

Omsk, Donnerstag, 3. Juli 2014

Für die Auswahl der Hotels hatte ich mir für diese Reise vier Kriterien festgelegt:

Frühstück inklusive, fußläufig vom Bahnhof erreichbar, zentrumsnah und naja, 100€ pro Nacht und Person wollten wir auch nicht zahlen.

In Omsk liegt der Bahnhof aber soweit vom Zentrum entfernt, dass ich eins der Auswahlkriterien streichen muss.

Als ich in der letzten Nacht im Zug wach wurde, regnete es schon. Und ein Blick aus dem Fenster bot, abgesehen vom Wetter, das gleiche Bilde wie der Tag zuvor. Wald, Wald, Dörfer ganz aus Holz, unbefestigte Straßen, die sich aber schon am Dorfausgang irgendwo verloren, Wald, Wald, Wald. Flüsse.

Als wir uns kurz nach 9:00 Uhr Ortszeit in Omsk von unseren Reisebekanntschaften und den Schaffnerinnen verabschieden, regnet es immer noch.

7,2 km sind es bis zum Hotel. Nein, das würden wir auch mit ohne Regen nicht laufen wollen. Ich habe schon zu Hause eine Busverbindung rausgesucht.

12 Haltestellen sind es mit dem Bus Nr. 79 zum Sawod Kujbischew, dann folgen wir meiner ausgedruckten Wegbeschreibung und uns wird ganz komisch. Ich denke zurück an Baja Mare und vertraue darauf, dass die Umgebung manchmal schlimmer aussieht, als das Hotel selbst. Die Cousine wird mir später erzählen, dass sie dort vorrübergehend alles Vertrauen in meine Instinkte verloren hat. Zwar hat es aufgehört zu regnen, aber die unbefestigten Straßen sind mehr Pfütze als Weg, auf dem lehmigen Untergrund ist es rutschig. Es geht vorbei an neuen Neubauten, verkommenen alten Plattenbauten, windschiefen Katen und Holzhäusern. Sieht aus wie ein Slum. Das Ende der Welt? Oh je.

Doch dann, wie vor zwei Jahren in Baja Mare, steht, hinter einer Vertrauen auf ihre Sicherheit einflößenden soliden Steinmauer mit ordentlich Stacheldraht obendrauf ein ebenso solide gemauertes kleines Hotel. Wir treten durch das Tor und in eine andere Welt.

Das Hotel Vizit ist sehr schmuck, sehr neu und sehr sauber. Sogar das Internet funktioniert tatsächlich in allen Räumen. Das Personal ist hilfsbereit und freundlich und spricht sogar ein paar Worte englisch.

Nun, es ist Vormittag, es hat aufgehört zu regnen, wir sind hier, um die Stadt zu sehen, also machen wir uns nach dem Duschen auf. In die Stadt.

Dazu schlittern wir wieder über die unbefestigten Straßen. Die Tarskaja, unser Ziel, beginnt gleich um die Ecke. Holzhäuser, Bruchbuden, das Gefängnis! Da fotografiere ich lieber nicht, auch wenn mich die Holzhäuser gegenüber schon sehr neugierig machen. Es folgen Garagen, eine Bahn(?)schiene und dann Mietshäuser, teilweise Plattenbau, teilweise gemauert. Und da, am Ende der Straße, steht eine Kirche. Das ist die Kreuzerhöhungsungskathedrale. Sie stammt aus dem Jahre 1870 und macht einen sehr restaurierten Eindruck. Darüber, wie es ihr in 70 Jahren Sowjetmacht erging, konnte ich leider nichts herausfinden.

Danach beginnt die Tarskaja, so, wie sie in meinem kleinen Transsib-Handbuch beschrieben ist. Eine wirklich merkwürdige Fußgängerzone. Rechts Neubauten, links alte Holzhäuser, irgendwo in der Mitte ein Haus, das vielleicht aus der Gründerzeit stammt. Das ist auch saniert. Bei den Holzhäusern dagegen kann ich von liebevoll saniert, wie im Buch beschrieben, allerdings nichts entdecken. Vielmehr sind sie zugekleistert mit Werbeplakaten und sonstiger Reklame. Die Häuser scheinen ausnahmslos Frisier- und Kosmetiksalons, sowie Rechtsanwaltskanzleien zu beherbergen.

Als wir den Platz mit der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale erreichen, unterbrechen wir die Sightseeing-Tour aber erst Mal für ein Mittagessen. Im ukrainischen Restaurant „Schinok“ empfiehlt man uns das Business Lunch. Ein ganz hervorragender Tipp, den wir den ganzen Urlaub über beherzigen werden. Statt abends teuer zu essen, gibt es jetzt immer zwischen 12 und 15:00 Uhr ein 3-Gänge Menü, bestehend aus Suppe, Salat, Hauptspeise und Getränk für wenig Geld (so 190 bis 300 Rubel, das sind etwa 4 bis 7 €). Das Personal ist äußerst freundlich, das sind wir von Moskau gar nicht gewöhnt. Aber hier sind ja auch die Autofahrer anders. Die gewähren Fußgängern in den kleinen Straßen Vorfahrt, auch wenn kein Überweg da ist und an den großen Straßen nehmen sie auch extrem Rücksicht auf laufendes Volk. Das erschreckt uns fast ein bisschen. Das Essen selbst ist frisch zubereitet und lecker wie gewohnt.

Die Mariä-Himmelfahrtkathedrale wurde 1898 geweiht, 1935 von den Sowjets gesprengt, dann, vor nicht allzu langer Zeit wieder aufgebaut und steht nun den Gläubigen seit 2007 wieder zur Verfügung. Weil grad keiner guckt und ich auch nicht ein entsprechendes Verbotsschild gesehen habe, fotografiere ich mal schnell die Ikonostase. Im übrigen müssen wir uns Tücher kaufen, immer eins aus der Schublade ziehen und um den Kopf wickeln, kann nicht die Lösung sein. Bei meinen Haaren bin ich eigen und meine Angst vor Läusen durchaus unter paranoid einzustufen.

Wir laufen zum Irtysch. Der erste große sibirische Strom, an dem wir stehen und in den wir unsere Füße stecken. Er enttäuscht uns nicht. Groß, majestätisch, sibirisch.

Omsk liegt am Zusammenfluss von Om und Irtysch. Im Frühjahr 1716 wählte der Gardeoffizier Buchholz im Auftrag Peter I. die Mündung des Om als Festungsplatz.

Dorthin laufen wir jetzt am Ufer entlang. Wir kommen mit einer Babuschka ins Gespräch, die ein Dixie beaufsichtigt. Sie arbeitet für irgendeine Galina, der die mobilen Toiletten gehören und verdient sich so ein Zubrot zu ihrer kärglichen Rente. In Russland gehen die Frauen schon mit 55, die Männer mit 60 Jahren in den Ruhestand, im Osten des Landes, wo Arbeits- und Lebensbedingungen härter sind, sogar jeweils 5 Jahre früher. Und wie wir später erfuhren, gehen Leute, die einen schweren Beruf ausüben, noch mal 5 Jahre früher in den Ruhestand. Das muss natürlich bezahlt werden und ich wundere mich nun nicht mehr über die geringen Renten. Durchschnittlich 10000 Rubel sind das, also um die 220 €. Davon kann natürlich niemand wirklich leben. Die Leute arbeiten also weiter, wenn es geht, oder sind zwingend angewiesen auf das, was sie in ihren Gärten anbauen. Datschen bekommen so noch einmal eine ganz andere, eine existenzielle Bedeutung.

Die Festung verfällt leider vor sich hin. Statt sie zu sanieren, steht hinter den alten Gebäuden ein Neubau. Am Om und am Irtysch erkundigen wir uns nach den Möglichkeiten eines Ausflugs auf dem Fluss, ich kriege nebenbei ganz neue Ideen für zukünftige Urlaube, dann suchen wir die Kosaken-Nikolaj-Kirche. Diese Kirche ließen sich 1833 tatsächlich die Kosaken bauen. Die spielten bei der Eroberung Sibiriens ja eine große Rolle, die Kosaken, meine ich. In dieser Kirche in Omsk wurde ab 1883 sogar die Standarte Ermaks aufbewahrt. Dieser Ataman spielte bei der Eroberung Sibiriens eine wichtige Rolle und uns begegnete sein Name noch häufig. Leider ging seine Standarte während des Bürgerkriegs verloren. Die Kirche selbst wurde zu einem Konzertsaal. 1996 wurde sie ihrer ursprünglichen Bestimmung zurück gegeben.

Auf dem Weg zur Kirche stolpern wir schon mal über Koltschak. Während des Bürgerkriegs residierte seine allrussische provisorische Regierung in der Stadt am Irtysch. Später landen wir dann an einem Platz, an dem mit einer ewigen Flamme nicht der Gefallenen des 2. Weltkriegs, sondern der Opfer des Bürgerkrieges, und zwar der auf Bolschewikij Seite, also der der Revolutionäre, gedacht wird. Koltschak, „seine“ Opfer, und dann stehen wir an der in russischen Städten nicht wegzudenkenden Leninstatue und wenig später an einem Gedenkstein, der der Opfer des Stalinismus gedenkt. Was mir am Russland der Nach-Sowjetzeit so gefällt, verdichtet sich hier: Die Geschichte gehört zum Leben und zum Land. Man kann sie nicht ungeschehen machen, indem man Denkmäler vom Sockel stößt. So baut man zwar gern mindestens eine kleine Kapelle neben den Lenin, aber man bekennt sich auch  zu seiner Geschichte und wer weiß, vielleicht werden ja Denkmäler irgendwann zu Mahnmalen?

Jetzt aber ist es Zeit, die Prachtstraße der Stadt zu erkunden. Die Uliza Lenina. Wunderbar restaurierte Häuser aus der Gründerzeit, breite Bürgersteige, Skulpturen auf den Gehwegen, auf einem Hinterhof auf Leinwänden aufgezogene Fotografien aus der Zeit der vorigen Jahrhundertwende. Omsk, da bin ich mir nach diesem halben Tag schon sicher, ist eine wunderschöne Stadt. Und eine absolute Überraschung.

Es sind, wie immer, zu viele Fotos. Drauf klicken= groß gucken

17 Kommentare leave one →
  1. August 3, 2014 2:12 pm

    Die sibirischen Gewohnheiten der Autofahrer sind äusserst bemerkenswert. Uns half in Vladik sogar ein Polizist, das Hotel zu finden. Ein Unding ansonsten. Wenn das „den Sibirier“ auszeichnet, würde ich lieber dort als In Moskau wohnen.
    Das Denkmal für den Kanalarbeiter ist das einzige seiner Art. Schön, dass Ihr es gefunden habt!

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    • August 3, 2014 10:37 pm

      Oh, W-Wostok scheint noch mal besonders zu sein. Am Fährhafen, wo die Schiffe ins Ausland starten, schloss ein Herr in Uniform seinen Schalter, rannte mit uns ums Gebäude und zeigte uns den Weg zum Passagierhafen

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  2. August 3, 2014 6:05 pm

    Ein wunderbarer Bericht und wunderbare Fotos. Die Bilder erinnern mich zum Teil an meine eigenen aus Kiev (vor 24 Jahren). Es reizt mich gewaltig noch einmal in dieses Riesenland zu fahren. Aber so ganz ohne bzw. nur marginale Russischkenntnisse? Dieser Traum muss wohl noch ein wenig reifen.

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    • August 3, 2014 10:39 pm

      Oh, wir trafen Transsibreisende, die nicht mal kyrillisch lesen konnten, geschweige denn auch nur ein Wort russisch sprachen 😉

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      • August 4, 2014 8:04 am

        Also Lesen geht ja noch einigermaßen. Da würde ich wahrscheinlich auch schnell wieder rein kommen. Aber das Sprechen und vor allem dann die Antwort verstehen. Naja, wir werden sehen. jetzt genieße ich erst einmal deine Berichte.

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  3. August 4, 2014 12:11 am

    Es sind auf keinen Fall zu viele Fotos, red Dir nix ein 🙂

    Sehr interessante Stadt, die Uliza Tarskaja gefällt mir noch weit besser als die Lenina. Die Gegend um euer Hotel (Bild 2 nehme ich an) sieht allerdings wahrlich zum fürchten aus. Stacheldraht auf den Hotelmauern ist ja eigentlich auch schon ein subtiler Hinweis, so wie Mückengitter vor den Fenstern 😀

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    • August 4, 2014 8:22 am

      Exakt. Bild 2, da haben wir gewohnt. Also das Foto ist vom Hotel aus gemacht. Uns hat die Gegend um die Tarskaja auch extrem gut gefallen, eigentlich mit das schönste, was wir in Städten gesehen haben (es gibt da bald noch mehr hier zu sehen 🙂 ). Aber von der Innenstadt waren wir überrascht. Wir hätten erwartete, dass es da eher „russisch“ aussieht. Also ein bißchen grau, schmucklos, herunter gewirtschaftet. Blödes Vorurteil, ich weiß, aber so isses eben. Und dann steht man in dieser Stadt und staunt Bauklötzer

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  4. August 4, 2014 3:49 am

    o wie schön ist omsk! der kanalarbeiter gefällt mir auch sehr gut, am besten gefallen mir aber die fenster- und fassadenverzierungen! ist das holz oder metall? die unbefestigten straßen kenne ich 😉 schöne fotos und ein toller bericht!

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    • August 4, 2014 8:23 am

      Die Fenster und Fassadenverzierungen and den Holzhäuseren sind alle aus Holz. Wunderbare Schnitezereien. Nur die Dächer sind leider nicht mehr aus Holz

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  5. August 4, 2014 11:05 am

    spannender bericht. russland bekommt für mich allmählich ein gesicht dank dir!

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  6. August 4, 2014 10:09 pm

    Du solltest diese Reiseberichte als Buch heraus bringen. Echt jetzt! Ich habe seit langem nicht mehr so etwas Spannendes, Informatives und hervorragend Geschriebenes gelesen!

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  7. August 5, 2014 9:38 am

    Dein Vorurteilszerstrümmerungshämmerchen arbeitet zuverlässig 😉
    Ich hätte nie gedacht, dass Omsk so viele Schönheiten zu bieten hat. (es sind keinesfalls zu viele Fotos!). Der Kanalarbeiter ist genial. Statt der kleinen Holzhäuser hätte ich eher ausgeblichene baufällig Katen erwartet. Und das Foto vom Irtysch rief mir den Erdkundeunterricht wieder ins Gedächtnis: Ob, Irtysch, Jenessei, Don, Lena, Amur – all diese Riesenflüsse in Russland…
    Auch heute wieder ganz herzlichen Dank für die lebendige Reiseschilderung und die stimmungsvollen Fotos.

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  8. August 6, 2014 3:03 pm

    Weißt du, liebe Inch, ich werde mir eine solche Reise nie leisten können. Und so warte ich mit Spannung auf jeden Bericht von dir. Ich lese sie gern, denn zeigst nicht einfach schöne Fotos, du bringst auch das Besondere herüber, die Lebensart der Menschen dort. Eigentlich macht das den Reiz jeder Reise aus.
    Interessant finde ich deine Feststellungen, wie man dort mit der eigenen Geschichte umgeht. Es ist sicher so besser als unser ewiges Schubladendenken.
    Auf die nächsten Berichte freue ich mich.

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