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Stolper(wander)tag 1 – das Leid der Mütter

Oktober 26, 2013

Für Eltern gibt es nichts Schlimmeres, als seine Kinder zu überleben. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man 100 ist und die eigenen Kinder sterben 80-jährig. Vielleicht hat der Gedanke, dass sie ein erfülltes Leben hatten, dann etwas Tröstliches. Doch wenn sie 20, 15 und 14 Jahre alt sind, muss das grausam sein. Ich stehe in der Dietzgenstraße und frage mich, wie es Hedwig Erna Gutter geschafft hat, weiter zu leben. Vielleicht war ihr Enkel Karlheinz der Grund. Vielleicht der einzige.  Der Kleine war ein halbes Jahr alt, als seine Mutter, Ruth Gutter, deportiert wurde.

Ruth wuchs zunächst im jüdischen Glauben auf. 1939, 5 Jahre, nachdem sich ihre Eltern getrennt und ihr Vater vermutlich nach Palästina emigriert war, konvertierte die damals 17-jährige wie ihre Mutter und Geschwister zum evangelisch- lutherischen Glauben. Wir wissen aus der Geschichte, dass ein Religionswechsel kaum jemanden zu retten vermochte. Am 11. September 1942 wurde die junge Mutter  wegen eines Vergehens gegen die Kriegswirtschaft verhaftet und trotz Freispruch zunächst ins Gefängnis und später nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie nach nur 1-monatiger Lagerhaft am 2. Januar 1943 ermordet. Ruth Gutter  war gerade 20 Jahre alt, ihr Sohn noch nicht mal 1.

Ihr jüngerer Bruder Salomon stürzte sich nur einen Monat nach ihrer Verhaftung, am 20. Oktober 1942, vom Dach des Wohnhauses der Familie. Er war gerade 14 Jahre alt.

Rosa Gutter, seine ein Jahr ältere Schwester folgte ihm, nachdem sie vom Tod der großen Schwester in Auschwitz erfahren hatte. Am 13. Mai 1943 sprang auch sie, 15-jährig, vom Dach in den Freitod.

Ich mag mir das Grauen gar nicht vorstellen. Das Leid der Mutter. Ich stelle mir eine gebrochene Frau vor, die all die ihr verbliebene Kraft in ihren Enkel, der gleichzeitig die Quelle ihrer Kraft ist, steckt. Sie erzog ihn im christlichen Glauben. Sie verlor alle ihre Kinder in nicht mal 7 Monaten. Ob sie je über den Schmerz hinweg gekommen ist? Gab es Tage, an denen sie nicht trauerte? Die drei Stolpersteine vor dem Hauseingang erinnern an drei Geschwister. Ich aber denke unaufhörlich an die Mutter.

DSC_0194

Die Dietzgenstraße ist eine Quer- der Coppistraße. Ich erwähnte es schon: Das ist mein persönliches Bermudadreieck.  Ich bin jetzt mitten in Gohlis. Stur folge ich meinem Plan und stelle erstaunt fest, dass sich auch hier durchaus unsanierte Häuser finden. In der Coppistraße gibt es nun auch endlich so etwas wie geöffnete Gastronomie.  Es ist mittlerweile früher Nachmittag und trotz meines kleinen Picknicks in der Landsberger Straße bin ich doch leicht hungrig. Außerdem wäre ein Kaffee nicht schlecht. Ich finde ihn in einer kleinen Eisdiele, dem Leipziger Eishaus. Dazu oberleckeren Quarkkuchen. Der ist mit ganz viel Liebe gebacken, das sieht man gleich. Und obwohl es innen verdammt gemütlich aussieht, freue ich mich über die Bank vorm Laden, da kann man neben Kaffee und Kuchen die Sonne genießen.

DSC_0204Vor der Hausnummer 65 finde ich den Stolperstein für Rudi Opitz. Der Name sagt mir etwas. Ein Kommunist. Von dem habe ich in der Schule gehört. Der 1908 geborene Reproduktionsfotograf arbeitete ab 1933 illegal gegen die Nationalsozialisten und wurde genau aus diesem Grund am 23.8. 1935 verhaftet. Nachdem er seine 2-jährige Haftstrafe verbüßt hatte, wurde er direkt nach Buchenwald verschleppt. Dort arbeitete er im Fotolabor des KZ. Doch er fertigte nicht nur Fotoalben und Fotos für die SS-Offiziere an, wie es seine Aufgabe war, sondern nutzte seine Position auch, um Negative aus dem Lager zu schmuggeln. Er wurde erwischt, kam in den Bunker und wurde gefoltert. Als er die Namen seiner Mitverschwörer nicht preisgeben wollte, wurde er am 7. August 1939 vom SS-Scharführer Sommer erschossen. Rudi Opitz wurde 31 Jahre alt.

(wie immer gilt für die Fotos: Drauf klicken=groß gucken)

11 Kommentare leave one →
  1. Oktober 26, 2013 8:25 pm

    Es sind so wichtige Erinnerungen bei diesen Stolpersteinen.

    Und bewegend, was du schreibst.

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  2. Oktober 26, 2013 10:38 pm

    Diese „kleinen“ Erinnerungen scheinen mir viel wichtiger zu sein als große, unpersönliche Schuld und Geschichte. Am einzelnen Schicksal wird doch erst deutlich, was geschah. Und danach kann aus der großen Anzahl der vielen einzelnen Leiden eine ganz andere persönliche Haltung folgen als nur aus den „Tatsachen“, die es im Unterricht (falls überhaupt noch) gibt.

    Das sind nur ungeordnete Gedanken dazu. (Aber ich habe in der vergangenen Woche hier in Halle auch Stolpersteine gesehen, wo sie mir noch nie auffielen.)

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  3. Oktober 26, 2013 11:14 pm

    Es macht betroffen, diese Geschichten über die Menschen und Schicksale hinter diesen Gedenksteinen zu lesen.

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  4. Oktober 27, 2013 12:42 pm

    Am Schicksal alleine der Kinder, sowie des mutigen Widerstandskämpfers müssen verdeutlichen wie widerwärtig und barbarisch dieses faschistische System war und das es keine Verjährung dafür geben kann geschweige denn darf!

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  5. Oktober 27, 2013 6:13 pm

    Wir dürfen nie und nimmer zulassen, dass sich so etwas wiederholt…

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  6. Oktober 27, 2013 8:04 pm

    Vielen Dank für die Geschichten und Gedanken. Ich bleibe eigentlich immer stehen, wenn ich einen Stoplerstein entdecke und lese und denke an die Leute, vielleicht dieses Jahr am 9. November tatsächlich mal mit anderen Menschen gemeinsam.

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  7. Oktober 28, 2013 12:30 am

    Von den Schicksalen der Mütter bis zum oberleckeren Quarkkuchen in zwei Minuten, puuuh, Du forderst mir ganz schön was ab. Ich würde jetzt gerne an Quarkkuchen denken, aber habe immer noch Beklemmungen.
    Die eigenen Kinder zu überleben ist so ziemlich das schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Und dann auch noch auf diese Art…

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    • Oktober 28, 2013 8:05 am

      Ja, ich weiß. Und jedes Mal, wenn ich einen Abschnitt beschreibe und von den Schicksalen hinter den Stolpersteinen zur Architektur oder den Banalitäten des Alltages komme, frage ich mich, ob das nicht etwas pietätslos ist, ob ich das so schreiben kann. Andererseits denke ich mir, dass so die Schicksale… wie soll ich mich ausdrücken? Die Verschleppten, Deportierten, Ermordeten waren nicht eine Gruppe von Menschen, die irgendwo außerhalb der Gesellschaft lebten. Sie verschwanden nicht wie Menschen, deren Existenz man schon nicht wahrgenommen hat, als sie noch da waren. Sie verschwanden nicht unbemerkt.
      Und wenn ich dann zwischen zwei Stolpersteinen und den Biografien der Opfer Quarkkuchen esse, hole ich sie vielleicht genau in diesen Alltag zurück. Denn es ist ziemlich einfach, der Opfer zu gedenken, ohne an die Täter, nicht die aktiven, sondern die passiven, zu denken. Ich frage mich: Was dachten die Nachbarn? Was taten sie? Schauten sie weg? Waren sie sich ihrer Mutlosigkeit bewusst? Ihrer Angst vor dem System? Oder ignorierten sie die Geschehnisse?
      Und im konkreten Fall: zwei Kinder sprangen vom Dach in den Tod. So was erregt Aufsehen. Wie also gingen die Nachbarn damit um? Frau Gutter war zum christlichen Glauben konvertiert. Wie ging ihre Gemeinde mit dem Tod ihrer drei Kinder um?
      Ich frage mich all das, nicht um die damaligen Nachbarn zu beschuldigen. Ich frage mich das, weil ich versuche zu verstehen, wie die Nachbarn damals so reagieren bzw nicht reagieren konnten.
      Ich bin selber in einer Diktatur groß geworden. Ich weiß, wie es ist, wenn man dem System durch die Flucht in private Nischen zu entkommen versucht. Und ich frage mich, wie hätte ich gehandelt in dieser anderen Diktatur?

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