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Stolper(wander)tag 1 – Form follows function*

Oktober 13, 2013

*Die Form folgt der Funktion (1896, Louis Henry Sullivan, amerikanischer Architekt des Funktionalismus) 

Dem Smartphone sei Dank bin ich nicht die falsche Brücke  hochgeklettert  und auf einer Fußweg freien Straße lang geirrt, sondern lande tatsächlich in der Landsberger. Der Name sagt mir was, aber ich weiß nicht was. Vielleicht spielt mir mein Gedächtnis auch nur einen Streich, denn mit Landsberg im heutigen Saalkreis  verbindet mich eine sehr intensive Jugenderinnerung. Einmal nämlich, in den 70er Jahren, als der Kauf eines Bahntickets verpönt war, fuhr ich mit ca 100 Gleichgesinnten dahin zu einem Konzert. In Halle, wo wir umsteigen mussten, hatte man offensichtlich keine Lust auf ein paar Dutzend, der sozialistischen Erziehung irgendwie durch die Lappen gegangene, langhaarige Elemente und ihre Gammelkumpelinen und man bat uns, doch gleich den nebenan bereit gestellten Zug zu nutzen. Dafür durften wir sogar über so einen Nebenbahnsteig laufen.

Im Zug nach Landsberg nun traf das feierwütige Volk auf eine sehr engagierte Schaffnerin, die zwar wild entschlossen war, die Fahrkarten zu kontrollieren, offensichtlich aber unter Konzentrationsschwächen litt. Denn statt sich auf einen Bösewicht zu fokussieren, ließ sie sich immer wieder ablenken.

Und das sah dann so aus. Jemand rannte durch den Zug, die Schaffnerin auf den Fersen. Hatte dieser jemand das Ende des letzten Wagons erreicht, standen in diesem alle, wirklich alle auf und rannten in die andere Richtung. Während die arme Kontrolleurin denen schreiend folgte, setzten sich diese nach und nach auf frei Plätze, bis nur noch einer übrig war und wenn der am Ende des ersten Wagons angekommen war, begann das Spiel aufs Neue. Wir hatten einen Heidenspaß und die Schaffnerin, hätte es damals schon diesen Fitnesswahn gegeben, hätte an dem Tag wohl aufs Joggen verzichten können.

Die Landsberger Straße jedenfalls sieht erst mal ziemlich unbebaut aus. Doch schon bald sehe ich rechts wieder die vertrauten Warnungen vor dem Betreten der Militäranlage und dann bin ich auch schon am Ziel. Etwa da, wo die Olbricht-Kaserne endet, beginnt auf der anderen Straßenseite die Krochsiedlung.

DSC_0109Diese unter Denkmalsschutz stehende Wohnanlage entstand in den Jahren 1929 bis 1930. Architekten waren die Berliner Paul Mebes und Paul Emmerich. Hauptfinanzier war der jüdische Bankier Hans Kroch.  Die Siedlung ist ein Beispiel des frühen sozialen Wohnungsbaus und der klassischen Moderne in Leipzig. Sie stellt die erste Etappe einer geplanten, nie fertig gestellten Wohnstadt dar. Denn Hans Kroch wurde am 10.11.1938 verhaftet, ins  KZ Buchenwald und später nach Sachsenhausen verschleppt. Nachdem er auf sein gesamtes Vermögen verzichtet hatte, kam er frei und floh mit seinen Kindern  über Amsterdam nach Argentinien. Seine Frau Ella wurde während ihrer eigenen Flucht verhaftet und 1942 nach zweijähriger Haft im KZ Ravensbrück ermordet.

Die Siedlung, wie sie sich heute darbietet, besteht aus 2-4 geschossigen Mehrfamilienhäusern mit insgesamt 1018 Wohnungen. Der gesamte Komplex ist großzügig angelegt mit viel Grün zwischen den versetzt stehenden Blöcken. Dazwischen, vor allem in Richtung Max-Leibermann-Straße stehen kleine eingeschossige Häuser, in denen Läden und Gewerke angesiedelt sind.

Ich bin hin und weg und streife gaffend und fotografierend durch Straßen, die allesamt nach norddeutschen Städten benannt sind. Sieht aus wie Platte mit seinen geraden Linien, ist aber natürlich viel ästhetischer. Geradlinig, rational, funktional, ohne Schnickschnack mit immer wieder kehrenden Formen und Elementen mit großen Fenstern. Ich komme mir vor wie in einer Bauhaus-Ausstellung.

In der Wangerooger Straße erinnern zwei Stolpersteine an  das Ehepaar Krause.

DSC_0117

Julius Krause war gelernter Maler und studierte später Architektur. 1910 siedelte er nach Leipzig über, wo er zunächst  eine Firma gründete, Konkurs anmeldete und später ein Baubüro betrieb. Er war aktiv in der SPD, Vorsitzender der Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Stadtrat und ehrenamtliches Ratsmitglied. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 musste er sein Mandat niederlegen. Am 10.11. 1938 wurde Julius Krause in seiner Wohnung verhaftet und nach Buchenwald verschleppt, wo er nur wenige Tage später, am 16.11., verstarb.  Seine Frau Rosalie stammte aus München. Sie  verstarb nur 2 Monate nach ihrem Gatten.

Ich streife noch ein bisschen durch die Siedlung.

In der Landsberger Straße fällt mir eine Gedenktafel an einem Flachbau auf. Der ist quasi nagelneu, passt aber sehr gut in die Siedlung. Der Bau ist dem Baumeister Albin Wilhelm Neumann und seinem Ur-Ur-Enkel gewidmet. Im Netz finde ich weder zur stiftenden Firma einen Hinweis, noch zum Ur-Ur-Enkel.  Zu dem 1941 verstorbenen Architekten finde ich nur einen Eintrag bezüglich seiner Firma, in der er offensichtlich mechanische Musikinstrumente produzieren ließ. Das Unternehmen lief nicht gut, denn 1894 wurde ein Konkursverfahren eröffnet.

In dem Flachbau ist neben einer Art Tierfutterhandlung auch ein Imbiss, aber wie all das wenige gastronomische, über das ich unterwegs gestolpert bin, geschlossen. Sonntag. Der Hunger treibt mich weiter. Die Häuser in der Landsberger Straße, finde ich, sehen dafür, dass sie erst zwischen 1958 und 1963 gebaut wurden, gar nicht so schlecht aus. Passen irgendwie zur den 30 Jahre älteren Blocks. Doch auch hier ist Sonntag. Und für kleine Flachbauten, in denen sich Kneipen ansiedeln könnten, war in den 50er/60er Jahren, scheint es, sowieso keine Zeit mehr. Gut, dass ich auf Wanderung eingestellt bin. Ich suche eine Bank und picknicke, ganz so, als wäre ich irgendwo draußen in der Natur.

Wie immer: Drauf klicken= groß gucken

8 Kommentare leave one →
  1. Oktober 13, 2013 1:13 pm

    Die arme Schaffnerin… 😆
    Dank deiner Serie bekommen die Namen der Stolpersteine Gesicht, Geschichte und Persönlichkeit – dass jene Menschen so aus dem Leben gerissen worden sind, schmerzt nun umso mehr…

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  2. Oktober 13, 2013 2:53 pm

    Schwarzfahren im Kollektiv hört sich nach einer großartigen Erfahrung an 😀
    Die Krochsiedlung könnte für meinen Geschmack etwas mehr Farbe vertragen, aber Denkmalschutz und Graffiti vertragen sich wohl nicht besonders.

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    • Oktober 13, 2013 5:32 pm

      Bild 11, rechts unten. 😉
      Aber Du hast Recht, Graffiti habe ich dort kaum gesehen. Dabei sind die Blöcke selbst nach der Sanierung vermutlich farbiger geworden, als von den Erbauern angedacht. Die dürften damals weiß bevorzugt haben.
      Ansonsten ist so ne Siedlung wie ein Dorf, da hockt hinter jeder 2. Gardine jemand und passt auf, ob Fremde kommen. Da dürften es „street artisten“ schwer haben. Deshalb ist urban knitting, Bild 10 und 12, vielleicht die Methode der Wahl.
      Und was das kollektive Schwarzfahren angeht… wir saßen ja auch im Kollektiv auf’m Topf. Da sieht man, was dabei raus kommt 😀

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