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Fahrrad fahren! (3.08.2013)

September 26, 2013

Heute gilt’s. Mir ist tatsächlich der Name des Viertels, das ich unbedingt sehen will, wieder eingefallen. Hell’s Kitchen. Das liegt gleich um die Ecke.

Wir packen die EC- zu den Kreditkarten und laufen los. Fahrradstationen wird’s da ja wohl auch geben.

Hell’s Kitchen liegt zwischen der 8th Avenue und dem Hudson River, zwischen 34. únd 57. Straße.  So gesehen, liegt unser Hotel fast im gesuchten Viertel. Bis in die 1980er Jahre hinein herrschte in dem ehemals von Irisch- stämmigen Einwohnern bewohnten Gebiet eine extrem hohe Kriminalität. Bandenkriege und Gangs bestimmten das Straßenbild.

Sleepers, einer meiner Lieblingsfilme, spielt dort. Im Vorhof zur Hölle und das Musical West Side Story sind dort angesiedelt.

Eigentlich logisch, dass ich da hin muss. Jetzt, wo keine Gefahr mehr besteht. Denn in der Schule lernte ich, dass in New York in jeder Minute ein Mensch umgebracht wird. Zum Beispiel. Auch, dass der Central Parc noch mal gefährlicher ist als ganz New York zusammen genommen. Ehrlich, selbst wenn mein erster Urlaub nach der Wende in die Staaten gegangen wäre, hätte ich mich vielleicht nicht nach New York getraut. Denn das erschien mir schon als sehr gefährliche Stadt. (Vielleicht ist das ja der Grund, weswegen ich ausgerechnet hier über die 5th Ave spazieren wollte? Ein Nervenkitzel sozusagen?) Aber 1990, da hätte ich mich nicht mal in die Staaten getraut. Wo die doch hier alle mit Waffen rumrennen. Diesbezüglich und insgesamt betrachtet, war das Land gar nicht so schlimm. Gut, bei David hingen gleich drei an der Wand. Aber tatsächlich mit einer Waffe durch die Öffentlichkeit wackeln sehen wir nur eine Zivilperson. Und zwar in New York! Allerdings auf der 8th, also am Rande Hell’s Kitchens.

Natürlich wird auch in diesem Viertel gentrifiziert, was das Zeug hält. Kleine unabhängige Läden kämpfen ums Überleben  und neben/hinter und zwischen den typischen New Yorkern Brownstone-Häusern mit den schrägen Feuertreppen dominieren gläserne Wolkenkratzer die Skyline.

In der 44th Street liegt das u.a. von Elia Kazan gegründete Actors Studio. Robert De Nero, James Dean, Marlon Brando, Paul Newman, Sidney Portier, Al Pacino… Sie alle haben da studiert.

Wir schauen uns ein bisschen um, dann versuchen wir unser Fahrradglück an der Station 10th Ave, 47th Street.

Nichts geht. Wir probieren es mit allen Karten, der Automat will eine andere sehen. Da hat die Cousine die zündende Idee. Sie drückt bei der Sprachwahl Englisch  und Schwupps, der Code, den der Automat ausspuckt, funktioniert.

Bevor wir losfahren, diskutieren wir noch die Funktionsweise des Systems und die Cousine überzeugt mich, dass man wohl, obwohl wir gerade für 24 Stunden bezahlt haben,  tatsächlich aller 30 min an einer Station sein muss, um einen neuen Code zu ordern.

Das gefällt mir nicht. Das ist unausgegoren. Das sage ich der Cousine. Und grummle noch ein bisschen mehr rum. Ach was, wiegelt die Cousine ab, hier gibt’s doch an jeder Ecke so eine Station.

Wir fahren los. Am Hudson River bis zur Williamsburgh Bridge. Ich weiß. Ich weiß. Falsche Seite. Das haben wir später auch gemerkt.

Schön ist der Weg nun auch nicht gerade. Geht zwar am Wasser lang, irgendwie…

Nach 25 min, wir haben gerade mal zwei Fahrradstationen passiert, und das war kurz hinter unserem Start,  berate ich mich mit der Cousine. Auf dem Weg bleiben und hoffen, oder lieber in die Stadt fahren? Wir entscheiden uns für letzteres.  Und irren wie die blöden durch die Upper Westside. Wir sind nämlich nicht nur auf der falschen Seite, sondern auch in die falsche Richtung gefahren und können eigentlich froh sein, nicht in Harlem gelandet zu sein. Aber das merken wir erst später.

Es regnet, es gibt keine Fahrradstationen. Ich habe ja gleich gewusst, dass das Scheiße ist. So in etwa ist die Stimmung, als wir uns entschließen, wieder zurück zu fahren.

Das Preissystem gestaltet sich so: 9,95 Dollar kostet die Ausleihe für 24h. Allerdings muss man sich alle 30 min einen neuen Code holen, wobei die Verifizierung über die Kreditkarte erfolgt. Überzieht man, zahlt man für die ersten 30 min mehr 4 Dollar, für die nächsten 13 und dann für jede weitere halbe Stunde 12 Dollar.

Das ist doch beknackt, grummle ich missmutig in einem Straßencafé in Hell’s Kitchen rum. Ich mach da nicht mit!

Die Cousine versucht die Situation zu retten und googelt wie wild mit dem Smartphone. Nein! Nein! Das ist beknackt! Du kannst doch nicht jedesmal googeln. Das ist doch bescheuert.

Und nachdem ich mich auf die Straße unter einen Baum gestellt habe (in den Staaten darf man selbstverständlich auch nicht in Straßencafés rauchen), betrete ich den erspähten Radladen. Stand da nicht was in diesem Geo-Artikel? Und wirklich, gleich neben der Tür liegen Stadtpläne mit den eingezeichneten Radwegen. Kostenlos.

Ich leg die der Cousine vor die Nase. So, wir wollen zur Williamsburgh Bridge. Du suchst jetzt den Weg raus und trägst alle Stationen an unserer Route ein. Und ich bin sicher, dass ich sie auf die Einbahnstraßen hingewiesen habe! Die sind nämlich auch eingemalt.

Es gibt nämlich drei Arten von Radwegen. In den Avenues beidseitig und durch die Parkspur vom übrigen Verkehr getrennt. In den Straßen, meistens sind es Einbahnstraßen, links des rollenden Verkehrs. In engen Straßen aber sind die Radwege in der Mitte! Wohl, damit kein Autofahrer einen Zweiradfahrer übersieht. Da ist es ganz blöd, wenn man versucht, verkehrt herum zu fahren. Hast Du nicht nach der Fahrtrichtung geguckt?, frage ich die Cousine. Ich hab Dir das doch extra gesagt. Ich bin immer noch ein bisschen grummelig.

Aber dann sind wir im East Village, Lower Eastside. Es regnet nicht mehr und ich bin sofort bestens gelaunt. Sogar so ein Hydrant macht uns die Freude, kaputt zu sein. Hier gibt es jede Menge alter Häuser, öffentliche Gärten, das Museum of reclaimed urban space, viel Graffiti, junge Leute und arme Leute.  So ein richtiges Szeneviertel eben.  Obwohl da natürlich auch gentrifiziert wird.

An der letzten Station vor der Bridge holen wir uns noch mal einen Code. 25min brauchen wir über die Brücke, da bleibt kaum Zeit zum Gucken.  Das ist Schade.

Wir stellen die Räder ab und widmen uns zunächst dem Gebiet links der Brücke. Dort zogen in den 1990er Jahren viele Künstler, Jugendliche, Musiker und Intellektuelle hin. Und obwohl natürlich auch hier heftig gentrifiziert wurde und so seit 2008 eine langsame Abwanderung der alternativen Szene zu beobachten ist, versprüht das Viertel noch  diesen gewissen Charme, der aus Kreativität und Vielfalt geboren wird.  Vor allem aber ist das Viertel natürlich hip.

Auf der anderen Seite der Brücke leben vor allem orthodoxe und chassidische Juden. Das wollen wir uns ansehen.

Die Gegensätze könnten größer nicht sein. Von laut, bunt und hipp stolpern wir in eine lautlose schwarz-weiße Welt. Eigentlich sind die Straßen wir ausgestorben. Nur hinter einem Zaun sehen wir Kinder spielen. Schon die kleinsten Jungs mit Schäfchenlocken und uniformiert. Auch die Frauen und Mädels sehen irgendwie alle gleich aus.

Da sieht alles trostlos aus. Hier soll Es war einmal in Amerika gedreht worden sein? Wir fühlen uns hier fremd und unwillkommen.

Also widmen wir uns lieber unserem nächsten Tagesordungspunkt. Zurück nach Hell’s Kitchen fahren und im Ben’s Koscher essen.  Darauf freuen wir uns schon seit gestern. Heute ist schließlich unsere letzter Abend, der muss besonders gewürdigt werden.

Das Ben’s liegt in der 7th Ave, Ecke 38th und gilt als eines der besten (bezahlbaren) koscheren Restaurants in Manhattan.

Leider sind die Portionen natürlich viel zu groß. Wir nehmen extra keine Vorspeise, da wird der Tisch mit ein paar Startern voll gestellt. Saure Gurken, wie man sie nur im Osten kriegt, saure Gurken, wie man sie nur in Russland kriegt. Ein himmlischer Weißkrautsalat. Wir kämpfen schwer dagegen an, nicht satt zu sein, bevor das Essen kommt.

Ich habe Chicken in the Pot, die Cousine The stuffed cabbage that made us famous.

Ok,, dass das ein halbes Hähnchen ist, das da im Nudeleintopf schwimmt, hätte ich bei genauerem Studium der Speisekarte eruieren können, auch dass sich neben den Nudeln Kreplach im Topf tummeln,  das aber das Matzebällchen fast genau so groß ist wie das halbe Hühnervieh, das konnte niemand ahnen, und wieso bitte sind die Krautroladen der Cousine doppelt so groß wie bei uns zu Hause? Da sie zwei  auf dem Teller liegen hat, sieht sie sich quasi genötigt, vier zu essen. Dabei soll sie mir beim Nudeleintopf helfen, denn der schmeckt wie früher bei unserer Oma. Die machte den leckersten Nudeleintopf der Welt und wenn wir Sonntags zu ihr fuhren und sie fragte, was sie kochen soll, schrien der Bruder und ich „NUDELEINTOPF“. Natürlich machte sie die Nudeln selber und kaufte nicht irgend so einen Fertigkram.

Aber die Cousine kostet nur und kämpft sich dann weiter durch ihre Krautroladen. Sie würde mir gern eine abgeben. Aber ich habe ja diesen riesigen Matzeball, den ich wirklich nicht liegen lassen will. Und dann ja noch das Huhn.

Wir kämpfen den ganzen Abend. Folgerichtig sind wir die letzten Gäste. Wenigstens kriegt man hier nicht die Rechnung auf den Tisch geknallt kurz nachdem das Hauptgericht serviert wurde.

Mit „unserem“ Kellner diskutieren wir noch ein bisschen über Ben’s, die Rezepte seiner Mutter und über die viel zu großen Portionen. Dann rollen wir zurück ins Hotel. Also nicht mit den Rädern. Mit den Bäuchen.

Meine heutige Ausrede für die vielen Bilder ist, dass wir in drei Vierteln waren. Eigentlich in vier, nimmt man die Upper Westside dazu. Und Williamsburgh sind eigentlich auch zwei Viertel. Macht 5.

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12 Kommentare leave one →
  1. September 26, 2013 10:48 pm

    Und wieder so ein schöner Bericht garniert mit Fotos, die so richtig gut die Stimmung wiedergeben. Weisste was, Inch, ich finds wirklich schade, dass ihr N.Y. schon wieder verlasst. Aber immerhin ersetzen mir deine Berichte eine eigene Reise dorthin – vielen Dank dafür!

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    • Frau Doktor permalink
      September 26, 2013 11:45 pm

      Ja Herr Ärmel, das sehe ich genauso 🙂

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      • September 27, 2013 9:03 am

        Ja, ehrlich. Ich fand es einerseits auch Schade. Zumindest ärgert es mich, dass ich so unvorbereitet war. Ich hätte so viel spannenderes sehen können. Andrerseits war ich auch froh, die große Stadt wieder zu verlassen.

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  2. Oktober 3, 2013 3:23 pm

    Unser Hotel liegt in der 39. Straße, also dann auch in Hells Kitchen.
    Und ich las, dass das Hotel fahrräder verleiht. Damit hoffe ich, das komische Bezahlsystem mit den Codes alle halbe Stunde umgehen zu können.
    Ach ja, und mein Versuch eben, zwei Greyhound-Tickets nach DC zu kaufen, scheiterte an der fehlenden amerikanischen Adresse. Blöd aber auch.

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    • Oktober 3, 2013 9:06 pm

      Hast du versucht online zu buchen? Da musst du deine Adresse eingeben. Ganz normal und als Bundesstaat Deleware!!!

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      • Oktober 3, 2013 9:28 pm

        Berlin in Delaware. Ist doch ein Witz, oder?

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        • Oktober 3, 2013 9:39 pm

          Witz oder nicht. Nur so klappt es. Musste ich auch machen. Oder kennst Du Leipzig in Deleware? Viel Erfolg

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  3. Oktober 7, 2013 7:04 pm

    Kohlrouladen in NY hätte ich jetzt nicht unbedingt erwartet. Ich habe mir gerade mal die Speisekarte von Bens angesehen, erschlagend viel wie fast immer da drüben (ich hätte mich sicher auch für „das gefüllte Zeugs das uns berühmt gemacht hat“ entschieden)
    Mist. Jetzt habe ich Appetit auf Kohlrouladen bekommen, und keine Chance…

    Aber was soll der Blödsinn mit dem Fahrradcode? Fahren die Amis immer nur eine halbe Stunde? Oder ist das eine neue Art der Überwachung, damit auch ja keiner mit den Dingern nach New Jersey abhaut?

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    • Oktober 7, 2013 7:36 pm

      Oh, ich hatte, seit ich wieder zu Hause bin, schon zwei Mal Kohlrouladen. Die letzten erst am Samstag. Die waren aber nicht so groß wie bei Ben’s 😉
      Und der Fahrradcode. Völlig unausgegoren. Allerdings gibt es Citibike erst seit dem 1. Juli. Vielleicht wird das noch verbessert.

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      • Oktober 7, 2013 7:38 pm

        Achja, wenn man vergisst, ein Rad wieder abzustellen, ziehen die Dir 1000 Dollar ab. Kreditkarte haben sie ja. Wat glaubst Du, wie wir immer noch mal an den Dingern gerüttelt haben, um sicher zu sein, dass die wirklich eingerasttet sind

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        • Oktober 7, 2013 8:32 pm

          Fahrradtechnisch sind die Amis wohl immer noch hinter dem Mond, aber bevor ich darüber nörgel sollte ich mir mal unsere Fahrradverleihstationen ansehen. Vielleicht ist das ähnlich beknackt…

          Und Kohlrouladen ständen auf dem Speiseplan fürs Wochenende wenn ich nicht schon wieder ackern müsste. Es ist zum verzweifeln…

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          • Oktober 8, 2013 6:08 pm

            Ich habe hier auch gleich mal bei uns geguckt. Also wegen der Leihräder. Da muss man eine Telefonnummer in Berlin anrufen. Bei nächster Gelegenheit, also einem Gast, dem es nach Rad gelüstet, werde ich das testen

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