Zum Inhalt springen

Die Welt zu Gast an meinem Küchentisch

Mai 27, 2013

Es ist seltsam, sich mit einem Schotten über Berlin zu unterhalten. Wir reden über Szeneviertel, Gentrifizierung, den Wandel. Davon, wie sich Mittellose, Kreative und mittellose Kreative Stadtteile erschließen. Wie diese irgendwann hipp werden, die Yuppies einziehen, Preise in die Höhe treiben, die Atmosphäre verändern und irgendwann verwundert feststellen, dass alles so anders ist als damals, als sie hier ankamen. Derweil sind die Mittellosen, die Kreativen und die mittellosen Kreativen längst weitergezogen. In den alten Kneipen mit Flair serviert man nun vegetarische Bratwürste und Tofubürger, Mütter schlürfen ihren veganen Latte Machiato. Wir vergleichen Leipzig mit Berlin. Ich klage, dass es in letzter Zeit zuviel Presserummel um meine Heimatstadt gab unter dem Motto „Leipzig ist das neue Berlin“ und davon, dass ich Angst habe vor der Art Menschen, die diese Werbung hier her ziehen wird. Wir reden vom Prenzelberg und Kreuzberg, von Connewitz und Plagwitz.
Wir sitzen unter dem Dach des Burgermeisters in der Karli, genießen das heimische Bier und warten auf das Ende des Regens. Schweifen ab zur Musikszene, William erzählt vom Musizieren auf der Straße und dem Tingeln durch Kneipen. Er lebt schon ein paar Monate in Berlin und schlägt sich so durch. Die Gitarre lehnt derweil am Tisch.
Will ist für ein paar Tage mein Gast.
Nachdem Couchsurfing.org mir zu profitorientiert geworden ist, nachdem es in den Deutschen Medien immer wieder Berichte gab über die Community und dabei nur von der Möglichkeit der kostenlosen Unterkunft gesprochen wurde, dabei aber der eigentliche Sinn konsequent verschwiegen wurde, nachdem ich immer mehr Anfragen gerade aus Deutschland erhielt von Usern mit dürftigen Profilen, die nicht mal das meine richtig gelesen hatten und aus deren Anfragen klar zu erkennen war, dass es ihnen nur um eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit ging und um nichts anderes, bin ich misstrauisch geworden, tue ich mich schwer, Leuten, die keinerlei Referenzen aufweisen, mein Gästezimmer zur Verfügung zu stellen und habe mich umgesehen auf anderen, ähnlich funktionierenden Portalen. Bei zweien habe ich mich angemeldet. Das eine älter als couchsurfing.org, das andere ganz jung. Und Will ist nun mein erster Gast aus dieser neuen, noch im Aufbau begriffenen Community.
Zwei Stunden hat er in der Innenstadt gestanden und musiziert, bevor er zu mir gekommen ist. Die Sonne schien, es war brechend voll, aber eben auch viele Straßenkünstler da, an jeder Ecke standen sie und dazwischen. Es lief nicht so gut. Dann aber kam einer, der ihm vorschlug, doch am Abend im „Stoned“ zu spielen.
Ich zeige ihm noch ein bisschen die Karli, das Feinkostgelände, dann laufen wir schwätzend ins Kolonadenstraßenviertel. Längst sind wir bei der Politik angekommen, dem Ostblock, investigativem Journalismus, den 70ern und 80ern in UK, Leben im Grenzgebiet der beiden deutschen Staaten, Informationsflut, Facebookgesellschaft, Demokratien und Diktaturen…
Fast unbemerkt gelangen wir ins andere Viertel, in dessen Abbruchhäusern wir in den 70ern geniale Parties feierten, morgens über die Fenster in die Hinterhöfe flüchteten, während die Polizei die Hauseingänge stürmte. Hier hatte ich schon früher eine Stammkneipe.
Während einer Party in einem scheinbar unbewohnten Haus lernte ich die letzte Bewohnerin kennen, eine alte Frau und ihre Katze. Vergessen lebte sie da und um in ihre Wohnung im 3. Stock zu gelangen, musste sie sich über die längst geländerlosen Treppen an der Wand entlang hangeln. Ich vergaß die Party, ließ mich zum Tee einladen und mir aus ihrem Leben erzählen. Wie sich herausstellte, kannte sie meinen Großvater. Damals, als sie noch jung waren. Was für ein schöner, was für ein stattlicher Mann, schwärmte sie und in ihren Augen sah ich eine unvermutete Jungendlichkeit und Leichtigkeit aufblitzen.
Davon erzähle ich Will, wie es hier früher aussah und was für Menschen hier lebten. Die alten Häuser wurden schon in den 80ern abgerissen und bis auf einen Straßenzug durch ein schönes, austauschbares Neubauviertel ersetzt. Auch da gab es einige Jahre eine Lieblingskneipe, deren Besitzerin zum erweiterten Freundeskreis gehört. Als sie aufgab, vergaß ich das Viertel bis das „Stoned“ einzog.
Wir schieben uns am Tresen vorbei, schnappen uns die letzten zwei Barhocker und ordern erst mal zwei Bier.
Der Chef ist nicht da, William hat nicht das Gefühl, dass die Leute hier heute Live Musik haben wollen. Maybe tomorrow.
Der Laden ist gut gefüllt. Hm. Reden wir wieder über dies und jenes. Ich habe Mühe, dieses schottische Lowland-Englisch zu verstehen, mit all den Geräuschen um uns herum. Ich erspähe Derek, er setzt sich zu uns und die beiden werden sich schnell einig. Am nächsten Abend kann der Schotte hier spielen. Es gibt noch zwei Bier aufs Haus und Schnaps. Und während die beiden reden, denke ich an die volle Wäschetrommel, die noch aus dem Keller geholt werden will und das Katzenklo, das ich heute unbedingt noch komplett reinigen muss. Egal wie spät es wird. Irgendwann nach Mitternacht.
Was soll’s. Wie und wo sonst hätte ich Gelegenheit gehabt, einen Menschen wie meinen derzeitigen Gast kennen zu lernen. Die neue Community funktioniert so wie couchsurfing. org funktionieren sollte, es teilweise auch noch tut. In einer Zeit, in der die Menschen hektisch ihren Träumen nachjagen, misstrauisch darauf bedacht, dass die Konkurrenz ihnen den Erfolg nicht stiehlt, ist es gut, Orte und Möglichkeiten zu schaffen, wo sich Menschen begegnen, sich aufeinander einlassen, (auch dem Fremden) vertrauen, und dafür für einen kurzen Moment die Zeit anhalten können. Das ist nicht dumm. Das bereichert.
Denn saß nicht letztens erst eine Balletttänzerin aus Boulder/USA bei mir am Küchentisch und gewährte mir kurze aber faszinierende Einblicke in ihre Welt? Diesen Stress, einen Job zu finden, dieses tägliche Training, die Angst zu versagen, die Sorge mit dem Essen und dem Gewicht, der Tatsache, dass sie mit 31 eh nur noch in Europa tanzen kann? Ich fieberte mit ihr mit, als sie in der Leipziger Oper vortanzte und war mit ihr enttäuscht, als man ihr absagte mit den Worten, dass sie zwar die Erfahrenste sei und am besten Ausgebildetste, aber leider ihre Beinform nicht den Wünschen des Direktors entspräche. Was für eine Welt.
Und eine Woche davor saß genau auf demselben Stuhl ein waschechter Mormone! Ein Mormone! Als er sagte, er sei aus Utah, habe ich mir den blöden Witz noch verkniffen. Als ich mich zwei Tage später beim Dinner aber wunderte, dass er darüber nachdenken müsse, wie viele Geschwister er hätte (es waren 12), erzählte er von selber, dass er Mormone sei. Also eigentlich nicht mehr. Er sei aus der Gemeinde ausgetreten, aber eben so aufgewachsen. Ich vermutete vorsichtig, dass das mit der Polygamie doch aber ein Klischee sei, da lachte er und verblüffte mich mit der Antwort, dass sein Vater 3 Frauen hätte. Natürlich sei er nur mit einer verheiratet, denn alles andere sei ja illegal, aber wer wolle einem Mann schon verbieten, noch ein paar „Freundinnen“ zu haben. Ich gestehe, an jenem Abend stand mir mehrmals der Mund offen, er gab mir bereitwillig auf all meine Fragen Antwort. Und ja, die HBO-Serie „Big Love“ spielt in seiner Gemeinde.
Ich hatte Mutter und Tochter hier, die der Lauf der Geschichte dazu verurteilt hat, in zwei verschiedenen Staaten zu leben: In Weißrussland und der Ukraine.
Ein junger Israeli, in Russland geboren, als Kind mit den Eltern nach Israel ausgewandert, träumte von einer Zukunft in Deutschland. Ich hatte Menschen hier, die in Wohnwagen leben, mit dem Rad die Welt umrunden, Durchreisende, Abiturienten, die sich die Uni anschauen wollen, Ehepaare, Liebespaare, Freunde, Alleinreisende. Allesamt Menschen, die ich ohne Communities wie cs, bw oder hc größtenteils nie kennengelernt hätte. Vielleicht wären wir uns mal auf der Straße begegnet, ohne ein Wort, vielleicht sogar ohne einen Blick zu wechseln, unerkannt aneinander vorbei gelaufen.

Und dann rockt William den Pub. Er ist gut. Richtig gut. Den Leuten gefällt’s auch. Sie klatschen, stampfen und johlen mit. Ein bisschen mache ich mir ja Sorgen, wie lange er das durchhalten soll. Denn innerhalb einer halben Stunde steht der 2. halbe Liter Bier vor ihm und zwei Schnäpse. Was heißt Schnaps auf Schottisch, ruft es aus der Ecke hinterm Tresen. –Schnaps.- Dann gib dem Mann einen. Wer arbeitet, soll trinken. Die anderen wollen auch. Jägermeister. Prost, William!
Ich verlasse die Kneipe eine halbe Stunde später. ICH muss schließlich morgen früh raus.

Es ist gut, Ort zu schaffen, wo sich fremde Menschen vertrauen, sich begegnen, sich aufeinander einlassen, dafür für einen kurzen Moment die Zeit anhalten. Das ist nicht dumm. Das bereichert.

9 Kommentare leave one →
  1. Mai 27, 2013 7:26 pm

    das hast du richtig gut beschrieben, tolle einblilcke in deine welt! du holst dir die welt ins haus, das finde ich super und auch, daß du den anspruch erhebst, andere an- und einsichten zu erhalten und zu teilen!
    liebe grüße

    Like

  2. Mai 27, 2013 8:26 pm

    Hach. Das zu lesen, macht mit das Herz auf. Erstens, weil ich es unglaublich cool finde, dass Du das machst. Zweitens, weil ich es auch gerne hätte, aber an Zeitmangel und Sprachbarrieren scheitern würde. Der Job fordert mich zu sehr. Da bleibt momentan keine Kraft für abendliches Versacken. Leider.
    Aber: Klasse, dass es Menschen wie Dich gibt.

    Like

  3. Mai 27, 2013 8:50 pm

    Das liest sich sehr schön und überaus interessant. An den Lebenserfahrungen und Schicksalen, Träumen, Wünschen solcher Couchsurfern würde ich mich auch sehr gerne bereichern…

    Like

  4. Mai 28, 2013 1:55 pm

    Das ist wirklich genial und bereichert sicher nicht nur den Gastgeber. Würde ich nicht so ein unstetes Leben führen, hätte ich mich sicher auch schon bei couchsurfing angemeldet, aber nur ein Bett bereitstellen bringts ja nicht, wenn man sich nicht auch ein wenig um seine Gäste kümmern kann.

    Like

  5. Mai 28, 2013 5:58 pm

    Ja, ich gebe zu, manchmal habe ich auch keine Lust, da will ich meine Wohnung für mich. Da geht mir schon die Katze auf den Wecker 😉
    Aber ich kann das ja steuern, ich kann ja entscheiden, wen ich in meine Wohnung lasse und wann und wie viel und wie lange

    Like

  6. Mai 28, 2013 9:02 pm

    Normalerweise mag ich am Abnd gar nicht mehr so lange Blogtexte lesen, aber – ich konnte nicht mehr aufhören mit dem Lesen. Es zieht einen unweigerlich an deinen Küchentisch.

    Like

  7. Mai 29, 2013 10:03 am

    Wunderschöner Text, den ich gerne noch länger weitergelesen hätte. Das klingt nach wirklich spannenden Begegnungen!

    Like

  8. Sleeper permalink
    Mai 31, 2013 11:41 pm

    Klasse! Mich freut, dass du deine Wohnung wieder für dich hast, nach den Chaostagen :-), und was dann daraus entsteht. Das Leben könnte so einfach sein …….

    Like

    • Juni 1, 2013 9:47 am

      Oh, gut, dass Du es ansprichst. Der nächste Blog die Sanierungsarbeiten betreffend ist schon fast fertig. Aber immerhin, die Aktion dauerte nur einen Tag und kostete mich – bis jetzt – nur einen Urlaubstag…

      Like

Meinungen?