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Wo ich noch nie war (25.08.2012)

September 12, 2012

Heute will ich mir etwas ansehen, wo ich noch nie war. Doch schon als ich die Metrostation Astoria verlasse, erkenne ich alles wieder. In der Kossuth-Lajut-utca gab es früher ein Geschäft mit hübschen, bezahlbaren Kinderklamotten.

Nach einem Frühstück in einer Karaoke-Bar laufe ich zur großen Synagoge am Karoly Korut.

Vom Wiener Ludwig Förster 1854-59 im byzantinischen Stil erbaut, ist sie mit 3000 Plätzen die größte Europas.. Gut restauriert und bewacht bietet sie Touristen Führungen, ein Holocaust-Mahnmal in Form eines gläsernen Lebensbaums im Innenhof und der kleinen jüdischen Gemeinde der ungarischen Hauptstadt ein Gotteshaus.

Nein. Hier war ich noch nie. Auch nicht im jüdischen Viertel, das ich nun durchstreife. Ich weiß sofort warum.

  1. hatte ich keinen Reiseführer
  2. gleicht das Viertel zu 90% einer Müllkippe

Es stinkt nach Pisse und den Ausscheidungen an Durchfall erkrankter Menschen. In manchen Straße fürchte ich mich, obwohl es helllichter Tag ist.

Eine Synagoge nur 5m entfernt der großen ist zugesprayt und mit Stencils bepflastert. Entweder gelten gewisse No Gos ungarischen Sprayern nur für Kirchen oder ich möchte nicht wissen, was manche Schriftzüge bedeuten. Eine 3. Synagoge ist mit Brettern vernagelt.

Am schlimmsten ist es in der Kazinczy utca. Was erst aussieht wie das Szeneviertel, entpuppt sich ein paar Meter weiter als Kloake. Ich weiche Pennern aus, laufe durch Urinpfützen vorbei an zugemüllten Hauseingängen. Der Gestank ist unerträglich. Eine schmuddelige Frau folgt mir, wechselt immer die Starßenseite, wenn ich das tue. Und doch gibt es auch hier Momente. Ein Mann spricht mit einer Taube, die zu ihm ans Fenster geflogen ist. Als er mein Lächeln bemerkt, winkt er mir fröhlich zu.

Die Kiraly utca dagegen präsentiert sich sauber, fast vollständig restauriert, mit vielen kleinen bunten Läden, Straßencafés und Koscheren Restaurants. Feucht und modrig riecht es aber auch hier.

Mein Reiseführer schickt mich zum Varosmarty-Platz und dann zur ältesten Pfarrkirche Pests. Und da ist sie, die Kirche, deren Sockel quasi unter der Brücke steht. Vor Jahren fand ich eine, die vollständig unter einer Brücke lag. Fasziniert erzählte ich Anzelm davon, der aber noch nie von dieser gehört hatte und sie, da ich weder den Namen der Brücke noch des darunter versteckten Sacralbaus kannte, mit der an der Êlisabethbrücke, der, vor der ich jetzt stehe, verwechselte. Franz Liszt hatte irgendetwas in der anderen Kirche gemacht. Hier auch. Ich verstehe die Verwechslung nun. Und lerne, dass diese älteste Kirche der Pester Seite, ursprünglich ein romanischer Bau, von den Mongolen zerstört wurde. Sein gotischer Nachfolger wurde von den Türken als Moschee genutzt und später sollte er zugunsten der Brücke sogar abgerissen werden.

Ich hänge meinen Erinnerungen nach und wackle auf der Vacu utca, auf der man aller 10m von Bediensteten angesprochen wird, in ihrem leckeren Restaurant zu speisen, zu den Markthallen. Aber außer gucken, fotografieren und ein bisschen Brot und Obst kaufen, ist hier nix. 14€ genau für so eine Salami, wie sei bei Aldi im Regal liegt, ist mir doch zu heftig. Und 25 für eine Sorte Wurst, die ich eh nicht so mag, müssen auch nicht sein. Aber man kann hier wunderbar Leute gucken, vor allem wenn man von der Galerie auf das muntere Markttreiben hinunter schaut. Und außerdem ist es hier kühl. Zwar steigt das Thermometer heute nicht über die 40″-Grenze, heiß und staubtrocken ist es aber trotzdem

Auf dem Rückweg fällt die Metro aus. Zwar stehen zahlreiche Servicekräfte rum, aber wenn keiner so gar kein Englisch spricht außer right und bus number hundertfife, ist es ein bisschen schwierig, die richtige Haltestelle zu finden. Ich finde den Bus wie alle anderen trotzdem, quetsche mich rein und mache Stadtrundfahrt. Busfahren hat auch Vorteile.

Am Heldenplatz viel Polizei. Und genau so viele Menschen mit rot-weißen oder schwarzen Fahnen. Am Rand, gut abgeschirmt von den Ordnungshütern ein Häuflein Gegendemonstranten. Demokratie ist das einzige Wort, das ich auf ihren Plakaten verstehen kann. Ungarisch ist aber auch ne Sprache.

Die Masse der Demonstranten sieht ein bisschen faschistisch aus. Und obwohl ich natürlich kein Wort verstehe, höre ich sehr wohl die Hyterie in der krächzenden Stimme des Redners. Und dann rufen ihm all etwas zu, dass wie HEULHEULHEUL klingt. Beängstigend.

Der Park ist voll von den Jungs in den schwarzen Uniformen und Helmen. Gefangentransporter stehen bereit. 25. August? Mein Reiseführer sagt nichts dazu. Mir fällt zu dem Datum auch nichts ein.

Hier wieder eine kleine Vorauswahl von Bildern (Zum Groß gucken drauf klicken)

6 Kommentare leave one →
  1. September 12, 2012 8:00 am

    Vielen Dank für den tollen Bericht und die Fotos. Ich bin deinen Wegen mit Tante Guurgels Maps nachgegangen. Da war ich vor 22 Jahren auch. Unglaublich, wie sich die Stadt verändert hat seit dieser Zeit

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  2. September 12, 2012 8:09 am

    Beim nochmaligen Anschauen der Fotos: „Heldenplatz“ – die Gestalt links hat eine Fahne umgehängt. Das Kreuz darauf erinnert stark an die Pfeilkreuzler. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch…“ (Brecht)

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  3. September 12, 2012 10:37 am

    Wenn ich richtig informiert bin, dann findet in Ungarn seit den letzten Wahlen ein ziemlicher Ruck nach Rechts statt, erstes Anzeichen hierfür ist das Inkrafttreten des neuen Pressegesetzes Anfang des Jahres gewesen, welches die Meinungsfreiheit überaus kräftig beschneidet. Manchmal könnte man schon an der Menschheit verzweifeln, sie scheint einfach nicht dazu zu lernen…
    Der Gang durch das jüdische Viertel muss unheimlich und beklemmend gewesen sein. Auch das scheint mir auf einen zunehmenden „Rechtsdrall“ hinzuweisen…

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  4. September 12, 2012 11:45 am

    Ich habs grad gegoogelt. Das war ein Aufmarsch zu Ehren der verbotenen rechtsradikalen „Ungarischen Garde“. Außerdem wurden neue Mitglieder veredigt und ein Parlamentsabgeordneter hat auch gesprochen. Das Nationalismus in Ungarn sehr verbreitet ist, weiß ich noch aus meinen Besuchen in den 80ern und er hat mich schon damals erschreckt. Dass ich über den Aufmarsch gestolpert bin ausgerechnet nachdem ich schon fassungslos durchs jüdische Viertel getappt bin, hat meinen diesbezüglich negativen Eindruck noch verstärkt

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  5. September 12, 2012 10:38 pm

    Deiner Beschreibung nach zu urteilen könnte das jüdische Viertel Zentrum des Ausbruchs einer neuen Epidemie werden, die Pest böte sich dem Namen nach ja schon an.
    Weit mehr fürchte ich allerdings die braune Pest, dämlicher Nationalismus ist scheinbar nicht aus den Köpfen der Menschen zu kriegen.
    Trotzdem eine interessante Stadt.

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  6. gemeinsamleben permalink
    September 13, 2012 12:33 am

    Deine Foto`s sind einfach SPITZE!

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Meinungen?