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Im Wartezimmer

April 25, 2012

Ich stelle mir grad vor, Morag säße hier. Oder Becky. Die würden vor Scham wahrscheinlich nicht wissen, wo sie hinschauen sollen. Vielleicht würden sie sich sogar die Ohren zuhalten?

Die Britinnen empfinden Deutsche Patientenwartezimmer nämlich als äußerst unangenehm. Schon, dass da jeder Guten Tag sagt, wenn er es betritt, ist eigentlich eine Zumutung. Geradezu UNHÖFLICH! Ist doch eine Krankheit eine höchst persönliche Angelegenheit und man (also die Britten) würde am liebsten unerkannt bleiben. Im Wartezimmer.

Und wenn sich die Patienten dann auch noch unterhalten. Unmöglich! Wenn’s geht auch noch über Krankheiten.

Meine höchst unterhaltsame Lektüre „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ von Bora Cosic habe ich längst zugeklappt. Die Dame neben mir toppt jedes noch so amüsante Buch. Gerade zählt sie auf, was sich in ihrer Tasche verbirgt. Handtuch und Wechselhose. Hat sie immer dabei. (Erwähnte ich, dass ich im Wartezimmer der Frauenarztpraxis sitze?) Nur die verflixte Krankenkarte findet sich nicht. 10 min hat die weit über 80jährige Oma schon an der Rezeption danach gesucht. Und wir haben sie dabei  mehr oder weniger interessiert beobachtet. Und die geduldige Schwester. Die ihr empfahl, doch mal im Portemonnaie zu suchen. Nee, da tu ich die nie hin. Vielleicht, hakt die Schwester freundlich nach, haben  Sie sie einfach  so in die Tasche…? Nee, ich tu die immer hier rein! Auf die beruhigend gemeinte Aufforderung, in aller Ruhe zu suchen, antwortet die Omi entrüstet, Na ich mähre doch schon die ganze Zeit hier rum!

Schließlich wird die Patientin in den Warteraum komplimentiert. Die Krankenkarte könne sie ja später nachreichen.

Dort nun wundert sich die Frau weiter. Wo sie doch immer so ordentlich sei. Und zu Hause habe sie alles schön auf Häufchen gelegt. Damit sie es immer parat hat, wenn sie da und dahin geht. Und morgen muss sie zu dem und dem Arzt, das und das untersuchen lassen. Morag würde spätestens jetzt die Schamesröte ins Gesicht steigen. Bei der Aufzählung des Tascheninhaltes  wohl am liebsten irgendwie im Fußboden verschwinden.

Jetzt fällt der älteren Dame ein, dass ihr Stock fehlt. Die Schwester stürmt herein und bringt ihr das am Schalter vergessene Stück.  Dann, als sie noch mal aufsteht, um ihre Jacke wegzuhängen, vermisst sie ihren Schal. Aber eine Patientin hat aufgepasst. Den haben Sie in Ihre Tasche gesteckt!

Nachdem sich die Omi fertig gewundert hat, erzählt sie von ihrer Reise nach Italien. 16 Stunden fährt man da! So lange! Da könne man doch gleich nach Spanien fahren. (?)

Und niemand hat ihr gesagt, in welcher Stadt sie da eigentlich seien. Nur den Namen des Hotels hätten sie gewusst. So was aber auch! Und auf dem Marcusplatz (!) da seien ja so viele Tauben gewesen. 7 Stück hätten gleichzeitig auf ihr gesessen. Aber die Enkelin hatte vergessen, den Fotoapparat aufzuladen, deshalb gibt es davon kein Foto.

Eine Patientin fragt vorsichtig, ob sie niemanden nach dem Namen der Stadt hätte fragen können. Na wen denne? Vielleicht im Hotel? Na, was denken Sie denn, warum ich Ihnen den ganzen Quatsch erzähle? bringt sie ihre Gesprächspartnerin zum Schweigen, der ganz offensichtlich keine passende Antwort einfällt und auch die Lust auf weitere Fragen vergeht.

Inzwischen trifft eine weitere, nicht ganz so ältere Patientin ein. Sie habe einen Termin, da ist sie, auf  Nachfrage der nicht so sicheren Schwester, ganz sicher. Die schaut nach. Also, hm, der war gestern. Gestern? Das kann nicht sein! Freitags gehe ich nie zum Arzt! Die Sprechstundenhilfe gibt auf und platziert die leicht verspätete Dame neben der vergesslichen.

Heut liegt was in der Luft, grinst sie. Und ich verbeuge mich innerlich vor ihrer Geduld und unerschütterlichen Freundlichkeit. Ich hätte die Krise gekriegt. Und Morag? Becky? Denen reicht wahrscheinlich schon meine Erzählung, um sich zu schämen. Und gleich Termine für alle möglichen Routinechecks während ihres Jahresurlaubes zu Hause zu machen. Nicht das sie doch noch hier…

6 Kommentare leave one →
  1. April 25, 2012 8:22 am

    Klasse! und mille grazie für den Buchtipp so ganz nebenbei 😉

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  2. April 25, 2012 12:20 pm

    Wartezimmer find ich eigentlich auch grausam, aber das schien mir doch sehr kurzweilig. Mein Hausarzt ist allerdings derart gut organisiert, da sind längere Aufenthalte im Wartezimmer eher die Ausnahme, dabei betreut der das ganze Altersheim.

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  3. Brigitte permalink
    April 25, 2012 2:44 pm

    Ohhhh und mein Grusel ist es, wenn zwei zusammengehörende Menschen im Wartezimmer sitzen und miteinander in der ansonsten absoluten Stille FLÜSTERN. Da könnte ich die Wände hochgehen, ich Sensibelchen. 🙂
    Nachträglich noch die allerherzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag! Bleib gesund und fit.

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    • April 25, 2012 11:25 pm

      Flüstern kann ich auch GAR NICHT haben. Egal wo. Aber im Wartezimmer kann man ja nicht weg.
      Und Danke für die Glückwünsche 😀

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  4. April 25, 2012 3:53 pm

    herrlich beschrieben! das gleiche können wir hier an jeder straßenecke oder in jedem gaschäft genießen. zufällig dazugestoßen beteiligt man sich gerne an solchen gesprächen und erfährt so ganze lebensgeschichten von bis dahin unbekannten bürgern 😉

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